Volltext: Der Völkerkrieg Band 6 (6 / 1916)

60 D i e Ereignisse an der We st front im dritten Kriegshalbjahr 
der Erde lastet. Dicht dabei die Arbeiterhütten, nach gleichem Schema eine wie die 
andere, straßauf, straßab, vom Ruß geschwärzt, verkommen, öde und trostlos. Hie und 
da eine Villa oder ein Schloß, mit Kitsch und Komfort überladen, mit kleinem Park, 
und dem unvermeidlichen „koiat äs vas". 
Wir haben dort Zeit gehabt, unsere Stellungen gut und dauerhaft auszubauen. Jede 
Bodensenke, jedes Kanalufer, jede Erhebung ist benutzt. Ein unvorbereiteter Sturm auf 
dieses Netzwerk von Gräben und Befestigungen müßte ungeheure Opfer kosten, erscheint 
ganz hoffnungslos. Die Engländer rechneten richtig, als sie sich sagten: machen wir die 
Deutschen kaput, bevor wir stürmen, sonst kommen wir doch nicht weiter. Granaten sind 
gut, aber Granaten und Gase sind besser. Was die einen nicht erschlagen, das ersticken 
die andern. 
So begann am 21. September 1915 das Feuergefecht der Geschütze. Die kleinsten und 
größten Kaliber wetteiferten. Von der kleinen Feldhaubitze bis zur 38 Zentimeter-Schiffs 
kanone hatten die Engländer alles im Gange. Tag und Nacht brüllten die eisernen 
Schlünde. Bis zu 70000 Schüsse stündlich wurden allein auf dem Divisions-Abschnitt 
gezählt. Trichter neben Trichter, Löcher bis zur Tiefe von acht Metern, richtige Erd 
gruben, immer wieder neu verschüttet und aufgewühlt. Das ganze weite Feld schließlich 
wie ein wild gepflügter Acker. Stürzende Bäume, berstende Mauern, brennende Häuser. 
Langsam sinken die kleinen roten Dörfer in Asche. 
Unsere Schlesier wissen, was das Ganze zu bedeuten hat. Sie lassen die Granaten 
hageln, sie freuen sich, wenn unsere Geschütze tapfer antworten, sie schlafen sogar ruhig 
inmitten des Höllenlärms. Der Engländer soll nur kommen. 
Und er kommt. Vier Tage lang feuert er mit stetig wachsender Heftigkeit. Am 25. Sep 
tember früh morgens 6.30 Uhr scheinen alle Batterien auf einmal losgelassen, wie eine Meute 
wilder Bestien brüllen sie. Die Leitungen, wohl dutzendmal und öfter noch geflickt, sind 
zerrissen. Um 7 Uhr hat der Divisionsstab die letzten Meldungen von der vordersten 
Linie, dann hören sie auf. Autos und Meldereiter übernehmen die Befehlsvermittlung. 
Gleichzeitig kommt von den Nachbardivisionen die Meldung: die Engländer seien ein 
gedrungen. Was war geschehen? Wie war das möglich? Das muß ein Irrtum sein. 
Aber jetzt sind auch schon die ersten direkten Meldungen da von vorn: Hinter dichten 
Gaswolken sind die Engländer gekommen und haben unsere vordersten Gräben überrannt, 
während ihr Trommelfeuer über unsere zweite Stellung niederprasselt. 
Besondere Vorbereitungen des Gegners für seinen Gasangriff waren nicht bemerkt 
worden. Trotzdem waren wir darauf gefaßt gewesen. Jeder Mann hatte seine Schutz 
maske und wußte mit ihr Bescheid. Erfahrungen über Aussehen und Wirkung des Gases 
hatten die Truppen gerade dieses Abschnittes noch nicht. So kam es, daß sie anfangs 
nicht recht wußten, wie ihnen geschah. Das Wetter war dem Feinde günstig, geradezu 
wie bestellt für seine Zwecke: der Nebel zog über das Gelände, ein leichter West trieb 
ihn gemächlich vor sich her, er drückte auch die giftigen Schwaden des Gases gegen unsere 
Linien vor. Immer je eine weiße und eine schwarze Wolke wälzte sich daher. Ein 
sonderbarer Nebel, dachte mancher Posten bei sich. Bis er ihn roch, ihn schmeckte, und 
nun aus Leibeskräften alarmierte: „Gasangriff! Sie kommen!" 
Sofort sind die Schutzmasken angelegt, und jeder Mann steht an seinem Gewehr. 
Noch feuert der Gegner wie besessen mit Granaten und Schrapnells auf die vorderste 
Linie. Und nun ist auch die unheimliche erste Wolke in den Graben hineingesackt, ein 
unerträglich süßlicher fader Gestank verbreitet sich. Der eine hustet und niest, der andere 
hat unter seiner Tarnkappe Atemnot, dem dritten wird sehr übel; der vierte spürt fast 
gar nichts und raucht getrost seine Pfeife weiter. Da wälzt sich auch schon eine zweite 
Wolke schwarz heran, undurchdringlich zusammengeballt, in langer Welle. Wenn man
	        
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