Die digitale Landesbibliothek Oberösterreich

224 Rußland während des zweiten Kriegshalbjahres 
Ueber die Elemente, von denen derartige Pogrome ausgeführt werden, schreibt 
Fritz Reck-Malleczewen in einem reizvollen Feuilleton „Russische Strolche und russischer 
Pöbel*: „Es ist nun einmal so: an dem russischen Straßenpöbel gemessen ist der russische 
Strolch ein Sinnbild der Gutmütigkeit und des Edelmutes. Denn wer es glaubt, daß 
jene Menschen, die Heuer in Moskau vorerst die Läden mit den deutsch klingenden 
Namen plünderten, die Fabrikdirektoren totschlugen, die drei schwedischen Damen ins 
Wasser steinigten und ähnliche Heldentaten verrichteten, aus den Verbrechervierteln 
Moskaus kamen, hat nie Pogrompublikum gesehen. Zum Erschlagen aller Fremd 
stämmigen, zum Absägen ihrer Köpfe, systematischen Schänden ihrer Frauen bedarf es 
der festgefügten russischen Weltanschauung von der Nichtexistenzberechtigung alles Nicht 
russischen; und wenn man diese Weltanschauung hat, ist man natürlich nicht Pöbel. 
Man nimmt als Bauer allenfalls an einem Judenmaffaker einer kleinen Stadt teil; 
aber dann geschieht es aus den nämlichen wichtigen Gründen einer hohen Staatsraison. 
Die Soziologie des russischen Straßenpöbels aber ist komplizierter, als man glaubt. 
Er entstammt jenem düsteren Zwischenreich, das nur wenige in Europa kennen, weil es 
in Europa nicht existiert: jener ungeheuren Menschenmasse, die in Rußland jährlich 
zwischen Stadt und Land, zwischen Jndustrieproletariat und Bauerntum hin und her 
flutet. Das sind Leute, die gestern noch Bauern waren, bei der periodischen Landver 
teilung sich übervorteilt sahen und glaubten, das zugewiesene Land werde sie nicht er 
nähren, die darauf heute in der Großstadt Nieten hämmern, und die morgen von einer 
sinkenden Konjunktur wieder aufs Land geschwemmt werden — wo das Gemeindeland 
ja immer noch ihrer wartet. 
Begreift man, zu welchem Tohuwabohu das Chaos russischer Kultur in diesem heil 
losen Amphibientum sich verknäuelt? Der Bauer, der immer Bauer bleibt, lenkt ver 
sonnen seinen Pflug und baut im stillen Sinnen an seinem Teil das Reich, das einmal 
das junge Rußland sein wird. Der russische (echte) Industriearbeiter steht, eingesponnen 
in sein seltsames Gewebe von Sentimentalität und westeuropäischer Zielbewußtheit, 
ethisch himmelhoch über dem Pöbel der Raubzüge. Jene Her- und Hinwogenden aber 
büßten bei ihrem Wandern den letzten inneren Halt ein, der die anderen über das trübe 
Meer russischen Lebens trägt: sie verloren, was an guten Keimen im russischen Menschen 
ist; sie erwarben, was an schlimmen Trieben im Taumel Rußlands zu erwecken ist. 
Der russische Arbeiter träumt seinem Reich des Friedens entgegen. Der Bauer sinnt 
im Schützengraben seine eigene russische Philosophie: „Wie kann es recht sein, Euer 
Hochwohlgeboren, daß wir auf die Deutschen schießen? Auch die Deutschen gehorchen 
doch den Befehlen ihrer Vorgesetzten, wenn sie auf uns schießen?* 
Aus diesen stammelnden Kindern werden einmal Menschen. Selbständige, die sich 
eines Tages ihre eigene Welt bauen werden. Jener Pöbel aber, der von Jahr zu Jahr 
anschwillt, je mehr die Bevölkerung anwächst und das Land des Einzelnen kleiner wird, 
jener Pöbel ist nichts anderes als der Zersetzungskeim im russischen Staatskadaver. 
Bereit zu allem — heute Komparserie aus dem allrussischen, morgen aus dem revolu 
tionären Theater! Gestern Plünderung der deutschen Botschaft, heute das allgemeine 
Anrennen gegen jeden Besitz und alles, was irgendwie festgefügt ist! Und morgm sieht 
die Regierung den Helfershelfer von gestern wieder auf der Barrikade 
Der russische Strolch ist die Karikatur aller guten und aller schlechten Eigenschaften 
der Russen: Gutmütigkeit und Faulheit, Humor und Mangel an Selbstzucht, Senti 
mentalität und Roheit. Der Pöbel Rußlands aber hat an Abgründigkeit in Europa 
nicht seines gleichen. Heute noch ist er nur die trübe Lache, in der das amtliche Ruß 
land sich von Zeit zu Zeit mit seinen Sünden allen bespiegeln kann. Morgen wird es 
vielleicht mit der Last seiner Schuld von ihm verschlungen sein.*