112 Die Ereignisse an der Ostfront nach der Wiedereroberung von Przemysl
die Russen eine starke Stellung, die uns am Weitermarsch verhinderte. Erst nach
anderthalb Tagen, als unsere Artillerie die Russen unbarmherzig heimgesucht hatte,
streckte die ganze Linie am Hellen Nachmittag die Waffen. Denn durch unsere Artillerie
und Maschinengewehre war ihnen der Rückweg völlig abgeschnitten worden, so daß
ihnen nichts übrig blieb, als Tod oder Gefangennahme. Am Abend war die ganze
Stellung unser mit der Beute von über 1000 Gefangenen, zwei Geschützen und zehn
Maschinengewehren.
Dann kam der Tag, da wir Mitau erreichen sollten. Um 4 Uhr morgens wurde
abmarschiert, und wir liefen den ganzen Tag in heißer Sonnenglut bis fünf Kilo
meter vor Mitau. Vor der Stadt, ungefähr fünf Kilometer davor, hatten die Russen eine
starke Stellung mit vier Reihen Drahtgeflecht verlassen, da sie in der Flanke angegriffen
wurden; sie zogen sich hinter die Stadt zurück und besetzten einen Schützengraben mit der
rechten Flanke am Bahnhof, mit der linken Flanke an dem 50 Meter breiten Fluß
Aa. Von dieser Stellung aus kam jetzt Feuer. Der Tag im Marsch (35 Kilometer)
war uns heiß und hart bekommen und nun, am späten Abend, da wir vor Müdigkeit
und Schlaf uns kaum mehr auf den Füßen halten konnten, sollten wir noch angreifen.
Doch die Sache sollte sich „drehen". Unsere Artillerie hatte durchs Scherenfernrohr
die Lage beobachtet, und sofort setzte eine furchtbare Kanonade aus Dutzenden von Feuer
schlünden und von drei Maschinengewehren ein. Die russische Artillerie erhielt von der
unseren mehrere Volltreffer und ließ alles im Stich; was noch lebte, flüchtete. Unterdes
kam die Nachricht, daß eine Division von Nordwesten her in die Stadt eingedrungen
sei. Auch habe unsere Reiterei die Stadt durchzogen. So blieben wir die Nacht im
Walde und sahen, wie die Stadt an allen Ecken brannte. Am andern Morgen setzten
wir über den Fluß mit Kähnen zur Sicherung der jenseitigen Ufer."
Die Bevölkerung von Mitau, die schwer unter der Russenherrschaft gelitten hatte, atmete
auf. Wie groß ihre Freude war, zeigt ein in der „Frankfurter Zeitung" veröffentlichter
Brief einer in Mitau wohnenden Dame vom 2. August 1915, in dem es heißt:
„Gestern um 5 Uhr nachmittags ist Mitau in deutsche Hände übergegangen. Wir
wurden erlöst von unserer Not und Pein. Es war die höchste Zeit, daß die Befreiung
kam, noch ein Tag später, und wenige von uns wären am Leben geblieben. In der
Nacht vom Samstag auf Sonntag zog die Polizei und der größte Teil des Militärs
ab; hier blieben nur ein Trupp Kosaken und ein Teil eines sibirischen Regiments, die
den Auftrag hatten, alles, was wertvoll in der Stadt war, zu zerstören und zu ver
nichten. Rundum wurden die Fabriken in die Luft gesprengt, die Holzplätze angezündet.
Von allen Seiten wogte ein Feuermeer, niemand durfte löschen. Die Soldaten erbrachen
die Läden, plünderten, waren völlig betrunken. Da tönte um Vs 2 Uhr mittag zwischen
all dem Krachen der gesprengten Häuser das Sausen und Pfeifen der deutschen Kanonen
kugeln. Mit welcher Seligkeit begrüßten wir diese Töne, es war ein Einhalt getan dem
barbarischen Wüten! Die Retter nahten! Ein paar Stunden saßen wir still auf der
Diele in unserem Hause, bei geschlossenen Läden unter scharfem Geknatter der Geschosse,
aber jetzt nicht mehr in Verzweiflung, sondern im Vertrauen auf die nahe Hilfe. Gott
hat uns gnädig beschirmt, wir blieben unversehrt. In mehreren Häusern unserer Nach
barschaft fielen Geschosse in die Häuser hinein. Um 5 Uhr wurde es still auf den Straßen,
man wagte hinauszugehen und sah die deutschen Pickelhauben, von allen Seiten zogen
sie in die Stadt, so stramm und frisch, als kämen sie vom Spaziergang und nicht von
so schwerer Arbeit. Den ganzen Abend war es ein Gewoge in den Straßen, überall
sah man frohe Gesichter und es gab ein fröhliches Sichwiederfinden mit alten Bekannten.
Die Stadt ist voll von deutschen Familien, die vom Lande hierher geflüchtet sind, Guts
besitzer, Pastoren, Aerzte. Noch geht man wie im Traum umher. Man kann es gar