104 Die Ereignisse an der Westfront von Mitte Januar bis Mai 1915
Schwierigkeiten waren bei der Ausführung dieses Auftrages zu überwinden. Denn es
fehlte der neuen Formation an Kolonnen, an Verpflegung, Sanitätsmitteln und
Sanitätsdienst; alles Notwendige mußte erst aus dem Nichts geschaffen werden. In
schweren Stunden und sorgenvollen Nächten wurde aber alles vorbereitet, und als
dann am 16. und 17. August die „Armee d'Alsace", die eigens zur Eroberung des Elsaß
geschaffene französische Armee, unter General Archinad von Belfort aus vorrückte, konnte
sie zwar Mülhausen wieder einnehmen, aber sie fand uns gerüstet!
Die zweite Einnahme von Mülhausen war, wie schon gesagt, strategisch völlig
ohne Einfluß; aber sie hatte eine desto größere politische Bedeutung, die den Franzosen
sehr gelegen war. Selbst wenn die französische Armee bis zum Rhein gelangt wäre,
würde dieser Vormarsch militärisch doch ohne Bedeutung gewesen sein, auch sogar ein
noch weiteres Vordringen hätte mit einem Luftstoß geendet, der sogar für uns günstig
gewesen wäre. Aber für den Charakter einer so weibischen Nation wie der französischen,
für ihre Volksstimmung und für spätere Friedensverhandlungen kam der Besitz von Mül
hausen in Betracht, immerhin ein Grund, das französische Heer nicht weiter eindringen zu
lassen. Deshalb entschloß sich der Oberbefehlshaber, mit seinen schwachen Kräften den Rhein
zu überschreiten und die Franzosen anzugreifen. Mit einer zwar dünnen, aber desto
breiteren Front griff er den Gegner, der über die wirkliche Stärke der Deutschen voll
kommen getäuscht wurde, in der Flanke an und erzielte einen über Erwarten großen
Erfolg. Zwar mußten die drei beteiligten Landwehr-Divistonen über den Rhein
zurückgehen, als zweieinhalb französische Armeekorps und eine Kavallerie-Diviston gegen
sie einschwenkten, aber eins hatten sie trotzdem erreicht: sie hatten auf den Höhen südlich
Mülhausen den bedeutend überlegenen Gegner zwei volle Tage mit solchem Nachdruck
und solcher Energie aufgehalten, daß der französische Heerführer nicht den Mut hatte,
weiter vorzugehen, obwohl seine Patrouillen schon ihre Fühler weiter ins Elsaß aus
gestreckt und bereits Kolmar erreicht hatten. Also ein Erfolg war mit geringen Kräften
gegen einen weit stärkeren Gegner erzielt worden, der seine besondere Anerkennung in
einem huldvollen Telegramm des Kaisers fand, in dem die Leistungen unserer helden
mütigen Landwehrkämpfer anerkannt und belobt wurden (vgl. I, S. 270).
Selbst bis nach Neubreisach hatten sich Vorpostengefechte entwickelt, Kolmar war ge
fährdet. Für den, der die Verantwortung trug, waren es bange Tage. Aber die all
gemeine Entwicklung der kriegerischen Ereignisse half. Die Armee Heeringen ging jen
seits der Vogesen vor, und es gelang, ihr die Hand zu reichen. Die Franzosen wurden
gezwungen, ihre zweieinhalb Korps für andere militärische Entscheidungen wegzunehmen
und auf ihre politischen Absichten im Oberelsaß zu verzichten. Durch den Rückzug der
französischen Truppen wurde das Oberelsaß nun wirklich zu einem Nebenkriegsschau
platz, wie es von Ansang an im deutschen Kriegsplan vorgesehen gewesen war.
General Gaede folgte nach dem Rückzug der Franzosen mit seinen schwachen Kräften
und nahm Mülhausen wieder in Besitz. Neubreisach wurde, da es außer Gefahr war,
soweit als möglich von Truppen entblößt, man ging bis über Kolmar vor, und jetzt
war — nachdem einige bayerische Streitkräfte die Armee-Abteilung verstärkt hatten —
der Oberbefehlshaber in der glücklichen Lage, mit der allmählichen Zurückdrängung der
französischen Heeresteile beginnen zu können. Hierbei verfolgte er die Absicht, die Fran
zosen immer weiter vom Rhein weg und nach und nach ganz aus dem Reichsland hinaus
zutreiben. Dieser Plan ist bis heute noch nicht durchgeführt worden, weil die Franzosen
an Truppen stark überlegen waren und es auch heute noch sind, und besonders weil sich zwei
wichtige Hindernisse entgegenstellten, — einmal die mit Sperrsorts besetzten Vogesenkämme
und das andere Mal die starke Festung Belfort, deren Fortgürtel soweit vorgeschoben ist,
daß von ihm aus schon Dammerkirch unter Feuer genommen werden kann. Der Gegner