94 Die Ereignisse an der Westfront von Mitte Januar bis Mai 1915
Hopfengarten. Erst einem ablösenden Bataillon, das 14 Tage vorher auch schon in
der Stellung gewesen, fiel es auf, daß der Hopfengarten viel näher an der Stellung
lag wie früher, und scharf beobachtend erkannte man, daß die Franzosen in der Nacht
die vielen hundert Hopfenstangen mit ihrem Laubgewinde um 10 bis 20 Meter vor
trugen, einsteckten, das Loch für den Posten gruben, der sich harmlos exponierte, wie
wenn noch alles beim alten wäre, und — dahinter mit Sappen sich vorwärtsschanzten.
Als nun der Hopfengarten im Feuer unserer Feldartillerie zerfetzt wurde, prasselte ein
Hagel von Granaten auf unsere sich deckenden Leute hernieder, aus Wut, weil mal
wieder welsche Tücke entdeckt war.
Solange die Franzosen im Priesterwalde noch mit Vorarbeiten beschäftigt waren,
hielten sie Ruhe vor ihrer Front, als aber ihre Schanzen und Sappen ebenso wie
unsere fertig waren, gingen sie seit Dezember 1914 zu erbitterten Nahkämpfen vor.
Und hier setzte nun ein Ringen ein, wie es in seiner Furchtbarkeit noch in keinem
Festungskriege bisher aus so lange Dauer sich abgespielt hat. Sonst folgte beim
Herangehen bis fünf Meter an die feindliche Stellung mit Sappen und Sprengungen
der Sturm, der zur Entscheidung führte. Hier aber liegen sich seit Monaten im
Priesterwalde die Gegner auf fünf, zehn, zwanzig Meter gegenüber, bewerfen sich
mit Handgranaten, Minenbomben, die geschleudert werden, sprengen sich gegenseitig
in die Luft, hören den feindlichen Stollen näher und näher kommen, graben und
quetschen ihn ab, stürmen auch wohl den feindlichen Graben und die nächsten da
hinter, werden durch furchtbares Artilleriefeuer zerschmettert, das aus einer Entfernung
von 6 bis 8000 Metern durch vorne liegende Beobachtungsoffiziere auf 25 Meter genau
in die Gräben dirigiert wird, und zermürben sich gegenseitig in grausiger Art. Diese
Art von Kriegführung, die uns die Franzosen aufzwingen, weil sie, selbst zu charitativen
Zwecken, auf keine Kampfespause eingehen, ist die unmenschlichste, die ein zivilisiertes
Volk sich je erlaubt hat. Zu vielen, vielen Tausenden liegen tote Franzosen vor unseren
Stellungen, von den Vogesen bis zum Kanal, oft von ihren Kameraden als Schutzwall
benutzt gegen die Geschosse des Gegners. Aber auch ihren Leuten suchen sie durch
falsche Vorspiegelungen entweder Mut zum Angriff einzuflößen oder sie vom sehr be
liebten Ueberlaufen abzuhalten. Wie oft habe ich in meiner Eigenschaft als Komman
deur der Sanitätskompagnie auf dem Verbandplätze die bange Frage gehört, ob man
sie erschießen würde; ein schwarzbärtiger französischer Landwehrmann, der mit einem
Trupp Gefangener aus dem Schützengraben herangeführt wurde, bat, man solle ihm
nicht die Hände abhacken, er habe drei Kinder zu ernähren! Aus meine beruhigende
Antwort, daß er jetzt gesund seine Kinder wiedersehen würde, wenn der Krieg vorbei,
rollten ihm die Tränen herab. Mit leise geflüstertem „Merci, mon camarade“ suchen
die schwerverwundeten Franzosen unseren so behutsam transportierenden Sanitätern
ihren Dank zu stammeln, und Leichtverwundete legen vertraut ihren Arm um die Schulter
der stämmigen Rheinländer, die sie in den schlammigen Waldwegen bergab zum Wagen
halteplatz führen. Die unverwundeten Gefangenen stammten oft aus aktiven Regimen
tern und zeigten eine vorzügliche militärische Haltung, geradezu kokett mit hochgehaltener
Hand am Käppi salutierend. Ueber die wirkliche Kriegslage waren auch die Gebildeten
von ihnen falsch unterrichtet; daß Belgien in unseren Händen, Antwerpen seit langem
gefallen, die Russen zurückgeschlagen sind, wußten sie nicht. „Man hat uns gesagt, es
bedürfe nur noch dieses Sturmes, um die Entscheidung herbeizuführen", klagte einer
auf seiner Tragbahre, „und hat uns dazu von Lyon vorgeholt." Wo die Stimmung
fehlte, war reichlich Champagner gespendet worden, bis zu zwei Flaschen für den Kopf.
Unsere Leute fanden haufenweis Flaschen in den vordersten Schützengräben. Sie ziehen
zum Sturm auch immer die hintenstehenden Abteilungen vor und durch, weil sie die