92 Die Ereignisse an der Westfront von Mitte Januar bis Mai 1915
den Sappen. Einen großen Teil des Nachmittags verbringe ich damit, die wenigen
Feiglinge vorzutreiben, die Panik verbreitend zurücklaufen und sich in den Unterständen
herumdrücken, während ihre Kameraden sich vorn totschießen lassen. Solche Augenblicke
sind aufregend. Das Regiment läßt sich aber von diesen Leuten nicht beeinflussen, die
alten 106er bleiben aus ihren Posten, die Flüchtlinge sind Ausnahmen. Bald erhalte
ich den Befehl, mich zu den Unterständen zu begeben, wo ich meine Leute so gut wie
möglich unterbringe. Darauf nehme ich mit großen Schwierigkeiten die Verbindung
mit den Nachbartruppen auf, und allmählich kenne ich den Abschnitt wieder. In der
Nacht treffe ich meinen Oberst mit einem Pionierhauptmann, in dem ich den Haupt
mann Barrs, meinen ehemaligen Mathematiklehrer erkenne. Ich freue mich sehr, ihn
unter so eigenartigen Umständen wiederzusehen und führe ihn durch den Schmutz und
über die ersten Leichen zu dem Gefechtsstand des Bataillonsführers des 1. Bataillons.
Die Nacht verläuft zunächst ziemlich ruhig. Gegen Mitternacht erhalte ich den Be
fehl, mit meiner Kompagnie den Punkt D anzugreifen. Ich übergehe die Einzelheiten
der Vorbereitung. Sobald ich das Gelände links von mir etwas erkennen kann, etwa
3 Uhr 45 vormittags, lasse ich anderthalb Züge sich entwickeln. In diesem Augenblick sehe
ich in dem Verbindungsgraben, der mein Angriffsziel ist, eine Masse Helme und Bajonette
auftauchen. Ich befehle der Kompagnie, die dem Angriffsbataillon zur Verstärkung
beigeben ist, den feindlichen Gegenstoß abzuschlagen. Wirklich scheinen die „Boches"
das ihnen abgewonnene Gelände wieder nehmen zu wollen. Ihren Mut kann man
nicht leugnen, schließlich schwächt man dadurch auch das eigene Verdienst. Auf 20 Meter
wagt ab und zu einer von ihnen seinen Kopf herauszustecken. Es macht richtigen Spaß,
aus diese Quadratschädel, die ein so hervorragendes Ziel bieten, zu schießen. Ihre
Kugeln tun uns nur wenig, denn trotz ihres Mutes können sie doch nicht weit genug
aus der Deckung heraus, um gut zu zielen. Trotz allem, die Bajonette sind zahlreich!
Wollen sie etwa einen Angriff versuchen? Ich glaube es kaum. Immerhin lasse ich
die Bajonette aufpflanzen und bewaffne mich vorsichtshalber auch mit einem Gewehr
mit Bajonett, da ich sonst keine blanke Waffe habe.
Wir sind immer noch im Schmutz, diesem gelben, zähen Woövreschmutz, der unsere
Kämpfe hier so schwer macht. Eine Menge Gewehre versagen. Wir gleichen lehmigen
Figuren, mit Bajonette tragenden Stöcken bewaffnet. Nur wenige Leute schießen, die
anderen versuchen nach besten Kräften ihre Patronen zu reinigen, die voller Schmutz
sind. Unglücklicherweise haben einige Leute die Dummheit, zu rufen „Patronen" oder
noch schlimmer: „ich kann nicht schießen, mein Gewehr versagt." Sofort verbiete ich
diese Rufe, aber der Feind wird wohl seinen Nutzen daraus ziehen, ich schieße so meinen
Revolver auf die Köpfe einiger „Boches", die sich immer zeigen, ab; lade dann wieder
und warte der Dinge, die da kommen. Ich befehlige augenblicklich einen Zug, der
nicht zu meiner Kompagnie gehört, da ich bei der Erkundigung durch den feindlichen
Angriff überrascht wurde. Trotzdem bin ich in ständiger Augen- und Rufverbindung
mit ihr, und meine Befehle dringen gut durch. Einige Minuten vergehen so. Plötzlich
werden wir mit einem Hagel scheußlich knallender Handgranaten überschüttet. An der
Spitze ein Offizier, verlassen die Helme ihre Gräben und stürmen mit erhobenen Waffen
vor. Bei uns werden einige Schüsse abgegeben, aber ach wie wenige! — Ich schieße
noch einmal, ohne zu zielen, meinen Revolver ab, auf 20 Meter trifft man auch so;
dann ergreife ich das bereitliegende Gewehr, um vorzustürmen. Gerade in diesem
Augenblick sehe ich, daß meine Leute anfangen zu weichen. Die Panik greift rasch um
sich. Die Kräfte sind zu ungleich, wir werden durch die Zahl erdrückt. Das alles
spielt sich in 30 Sekunden ab, denn der Feind war nur 20 Meter entfernt. Jetzt
kann ich begreifen, was es heißt: „Rette sich wer kann." Es ist aus! Getötet, ge-