30 Die Ereignisse an der Westfront von Mitte Januar bis Mai 1915
sonnenheit bedurfte. Der Sieg der Stürmenden nahm so gigantische Schritte, daß zahl
lose Batterien in ausgedehnten Märschen tagelang vorrückten, ohne auch nur zu Schuß
zu kommen, und Bagage und andere Kolonnen ihre liebe Not hatten, die Flüchtigen
rechtzeitig einzuholen. Die aber, die solchen Kriegsauftakts Schöpfer und Zeugen waren,
erlebten Stunden, die in ihre Seele Bausteine zu neuen Menschen senkten.
Was gescheite, klarschauende Köpfe schon vor Jahren bei der Betrachtung eines künf
tigen deutsch-französischen Krieges prophetischen Blickes vorausgesetzt hatten: nach einem
verblüffend raschen, siegreichen Eindringen in Frankreich werde der Vormarsch auf Paris
zum Stehen kommen und vor der letzten Entscheidung ein langatmiger Stellungskampf
sich entspinnen — diese Voraussagung hat sich erfüllt. Das Volk aber, dem zu Anfang
der Ereignisse jeder Tag eine Siegesdepesche bescherte, hat den Beweis erbracht, daß
seine Zuversicht fester gegründet ist als allein auf jene leuchtenden Vorzeichen des end
lichen Triumphes, daß es auch dann nicht an ein Verzagen denken wird, wenn nach der
Meinung derer, denen die deutschen Erfolge bislang Pfähle ins Fleisch getrieben, der
bisherige Teil des Feldzuges nur das Anfangsstadium des Weltkrieges bedeuten sollte.
Ter durchaus nicht unerfreuliche Stimmungsumschlag vom Siegestrunkenen zum zuver
sichtlich ruhigen Harren der kommenden Dinge, den die Wendung des kriegerischen Ge
schehens in der Heimat zeitigte, kam auch im Heere, in jedem einzelnen Mann zum
Ausdruck. In die Erdhöhlen waren die Tapfern gekrochen; und als eine anschwellende
feindliche Uebermacht den Tagesgewinn am Boden stetig schmälerte und schließlich jeder
Sturmvorstoß auf dem menschenleeren Schlachtfeld blutige Riesenopfer forderte, ging
den Truppen die Erkenntnis auf, daß die Lehmgräben sie wohl noch auf eine Reihe von
Wochen beherbergen müßten. In den letzten Tagen jenes unvergleichlichen Kriegsherbstes
stand der große Schützengraben, durch den man — mit kleinen Sprüngen freilich — von
der Nordsee bis ins Oberelsaß hinein wandern könnte, und der auf alle Zeiten als ein
Hauptmerkmal dieses Krieges gelten wird, fertig „gebuddelt" da. Aber dann erst, als
an der unendlichen Belagerungsfront kaum noch ein Durchbruch gelang, weder hüben
noch drüben, und der Himmel tagelang trüb verhangen blieb, dämmerte denen im Schützen
graben, was dieser nordfranzösische Winter ihnen bedeuten werde, welch ein Dasein
namenloser Unbilden und Entbehrungen ihrer harrte. Dieses Dasein in der Erde des
Feindeslandes rief andere Kräfte, nicht minder edle in die Schranken als Tatendrang und
Bravour, hier ward das Pflichtgebot des Ausharrens um eines idealen Zieles willen
ein neuer Prüfstein für Menschenwert und Unwert. Ein Prüfstein, an dessen Granit
die rein militärischen Waffen und das Handwerkszeug des Militarismuspopanz zerschellen
mußten, — ein Prüfstein, den sozusagen ein höheres, ein allein zum Richterspruch über
Völkerkriege berufenes Schicksal diesen Menschen in den Weg stellte.
Das Wort Entbehrungen faßt es nicht zusammen, was der Feldgrauen vom Fußvolk
in den Gräben wartet. Es ist nicht Hunger und Kälte, was ihnen Pein macht. Nein.
Die Feldküche kommt zur gegebenen Stunde mit kantischer Pünktlichkeit hinterm Hügel
angerumpelt, und der Liebesgaben aus der Heimat sind es so viele, daß die Besorgung
der Post aus Deutschland ungezählte Hände beschäftigt. Auch auf dem westlichen
Kriegsschauplatz haben lange Wagenzüge ihren Inhalt an wollenen Decken, Schafspelzen
und Oelmänteln in die Schützengräben entleert, die stellenweise zudem noch von besonderen
Oefen geheizt werden. Es soll keiner frieren! Aber eines ist schlimmer als Hunger
und Frost, als Halbschlafnächte auf feuchtem Stroh und wochenlanger Verzicht auf
Waschwasser und Seife. Das ist, daß die Natur, so scheint es, hier draußen die Ver
kümmerung all der aufs farbig Schäumende, aufs rhythmisch Tönende sehnsüchtig ge
richteten Sinne — die Verarmung der Menschenseele im Schilde führt... Das Gefilde,
das die Geschosse unablässig bestreichen, sieht öde aus. Kein Baum, an dem auch nur