22 Die Ereignisse an der Westfront von Mitte Januar bis Mai 1915
Aus dem bombardierten Reims
Anfang Februar 1915 begann die Beschießung der alten französischen Krönungsstadt,
die von der französischen Heeresleitung zu einem wichtigen militärischen Stützpunkte aus
gebaut worden war, von neuem. Die Zustände in der Stadt wurden derart, daß von
den 110 000 Einwohnern mindestens 98 000 flohen und in verschiedenen Teilen Frank
reichs Zuflucht suchten. In Paris allein befanden sich 15 000 Flüchtlinge aus Reims.
Ungefähr der zehnte Teil davon beteiligte sich, wie der Kriegsberichterstatter der „Daily
News" berichtet, Ende Februar 1915 an einer Versammlung am Boulevard du Temple, in
der die zuletzt Angekommenen über die Beschießungen berichten sollten. Ihr eigenes Blatt
„Reims ä Paris“ fand reißenden Absatz. Es enthielt schlechte Nachrichten. Die heftige Be
schießung am Donnerstag den 11. Februar hatte neun Bürgern das Leben gekostet und
zahlreiche Verwundungen zur Folge gehabt. Am 16. und 17. Februar kamen alle vier
Bezirke der Stadt in den Feuerbereich der deutschen Geschütze. Bis zum 20. wurde die
Beschießung mit wachsender Heftigkeit fortgesetzt. In der furchtbaren Nacht vom 21.
zum 22. Februar gingen 1500 Geschosse auf die unglückliche Stadt hernieder und ver
ursachten an elf Stellen größere Brände. In dieser Nacht wurden wiederum zwanzig
Bürger getötet. Als die Schulen der Stadt wieder eröffnet werden sollten, konnte man
die Schulgebäude nicht benutzen; man mußte den Unterricht in die Keller der Champagner
firmen verlegen, wo seit Monaten Hunderte von Personen Unterschlupf gefunden hatten.
Im „Journal de Genöve" wird ein aus Reims vom Ende Februar 1915 datierter Brief
veröffentlicht, in dem eine Dame ihre Erlebnisse in der Schreckensnacht vom 21. auf
22. Februar anschaulich schildert. Sie schreibt: „Sie können sich, liebe Freundin, von
dieser Nacht keine Vorstellung machen. Mein Mann war Sonnabend den 20. nach
Paris gefahren, und eine junge Freundin kam zu mir, um mir in meiner Verlassenheit
Gesellschaft zu leisten. Sonntag Abend gegen 9 Uhr saßen wir ganz ruhig und lasen, als
plötzlich ein Pfeifen und Zischen sich hören ließ. O, dieses Pfeifen! Ich habe nie
etwas Aehnliches gehört, und war doch 1870 während der Beschießung in Straßburg.
Aber das war ein Kinderspiel im Vergleich zu heute. Und dann schleuderten sie, Schlag
auf Schlag, ohne auch nur eine Minute lang aufzuhören, ihre großen Geschosse von fünf
verschiedenen Orten zugleich auf alle Stadtteile. Man hörte sie fallen. Ueberall ging
alles in Stücke, rechts, links, vor, hinter uns. Wir gingen ins Erdgeschoß hinunter,
aber es war hier genau so. Unser Keller ist nicht überwölbt, so daß wir hier unter den
Trümmern hätten begraben werden können. Er stand überdies voll Wasser. Trotz
dem setzten wir uns aus eine Kiste, wie zwei Hühner auf eine Stange. Um 11 Uhr
konnte ich es vor Kälte nicht mehr aushalten, wir husteten alle beide; da gingen wir
wieder in den ersten Stock hinauf, und ich machte Feuer im kleinen Salon, den wir noch
für den sichersten Ort des Hauses hielten. Nun warteten wir auf die Dinge, die noch
kommen sollten. Von 11 bis 3 Uhr morgens war es, glaube ich, noch schrecklicher als
vorher. Wenn eine dieser Bomben zur Erde fiel, erzitterte das ganze Haus; wir glaubten,
uns mitten in einem entsetzlichen Orkan zu befinden. Um 3 Uhr morgens hörte das
Schießen, nachdem es länger als sechs Stunden gedauert hatte, auf. Wir warfen uns für
kurze Zeit auf unsere Betten und konnten, als es hell wurde, feststellen, daß eine große
Bombe gerade gegenüber unserem kleinen Salon niedergegangen war. Sie hatte zwei
Löcher gerissen, durch die ein erwachsener Mann bequem hätte durchgehen können. Die
Straße war bedeckt mit Trümmern; in unserm Hos lagen aus den Mauern gerissene
Steine, Glassplitter u. a.; alle Fenster des Erdgeschosses und des ersten Stockwerks
unseres Ladens waren zersplittert.
Am nächsten Morgen, zwischen 8 und 9 Uhr, begannen sie von neuem, wenn auch nicht
mit solcher Heftigkeit; trotzdem gab es noch weit mehr Opfer als während der Nacht.