Der große Vorstoß der Oesterreicher nach Serbien 21
gen kann. Auch die Sonne hatten die Serben mit sich, weil man viel klarer gegen Westen,
die Sonne hinter sich, sieht und schießt. Trotzdem sind die österreichisch-ungarischen
Truppen mit Elan alle Schwierigkeiten überwindend, vorgegangen bis gegen Kragujevac.
Es wurden Bergkuppen genommen, wo serbische Gefallene Seite an Seite tausendweise
hingemäht dalagen. Die Gefangenen trugen allmählich mehr und mehr nur noch zer
fetzte Uniformen, zuletzt zum Teil nur ihre eigenen Bauernkleider. Sie berichteten von
Kriegsmüdigkeit, Munitions- und Proviantmangel und schienen ein Bild der Er
schöpfung des serbischen Heeres widerzuspiegeln. Aber durch die Ausdehnung der Front
bis Belgrad hinauf entstand eine Lockerung der österreichisch-ungari-
s ch e n A n m a r s ch l i n i e, die die Serben zu einer letzten Tat der Verzweiflung
anspornte. Alle Kräfte von überall her, von Mazedonien, der bulgarischen Grenze und
ihrem rechten Flügel unterhalb Belgrad, das dritte Aufgebot aus Fünfzigjährigen be
stehend und neuausgehobene Jünglinge unter zwanzig Jahren — alles wurde gegen
Westen geworfen um den rechten österreichisch-ungarischen Flügel einzudrücken. So
erfolgte die Räumung Serbiens hie und da unter schweren Rückzugskämpfen, aber ohne
die schweren Verluste, von denen die Serben zu berichten wissen." Trotzdem hätte der
österreichisch-ungarische Osfensivstoß sich behaupten können, wenn den Serben nicht im
letzten entscheidenden Moment gewaltige Sendungen an Kriegsmaterial und
Hilfskräften über Saloniki zu Hilfe gekommen wären.
Episoden
Der Zug der Gefangenen
In der „Frankfurter Zeitung" schildert Siegfried Geyer die Eindrücke, die er Ende
November 1914 am Save-Ufer empfing. Er erzählt: „Drüben in der Straße
geht der Pope von Haus zu Haus und segnet die Schutzheiligen, die in Dielen, Küchen
und Zimmern über die Bewohner wachen. Auf dem Platz neben dem Gasthaus stehen
serbische Gefangene. Von weitem eine graue, schwer bewegliche Masse, beim Näher
kommen Züge lebender Wesen, die sich gerade zu bewegen beginnen. Man kann nicht
sagen, daß es Soldaten sind, die marschieren, man kann nicht sagen, daß es Menschen
sind, die gehen. Das schleppt sich, kriecht, stolpert, hinkt, schleift nach vorwärts. Eine
heisere Stimme jammert. An fünfhundert sind es und nur einer jammert. Es war Mit
tag, als sie vorübergingen. Vorne reguläre Truppen, dann Komitadschis, dann wieder
Truppen, Mazedonier, Albanesen, dazwischen Leute aus der nächsten Umgebung, aus der
Macva. Einige sind in ihren Mänteln gefangen worden, die anderen haben Decken,
Tücher, Schals, Säcke, ein phantastischer, grauenhafter Maskenball der Verzweiflung.
Um die Schultern eines Albanesen, dessen Füße in knallgrünen Strümpfen stecken, dessen
Hosen an beiden Knien weit aufgerissen sind wie von scharfen Steinen; um die Schulter
dieses schwarzbraunen, einst sicher schönen Mannes schmiegt sich ein mattrotes Frauen
tuch, seiden und mit gestickten Dessins. Der Baumlange dort trägt den Brokatgürtel,
den Dolch hat man ihm abgenommen, aber man kann die Stelle erkennen, wo er ihn
trug. Nun kommt ein völlig verschrumpfter, vielleicht fünfzigjähriger Mann, körperlich
ohnmächtig wie ein Neunzigjähriger. Hinter ihm einer, der ein Tuch über den Kopf
geschlagen hat, ein schweres Tuch mit schmutzig braunen, rotblauen Rändern und einer,
der keine Schuhe mehr hat und bloßfüßig wankt und einer, der dunkel ist im Gesicht, um
dessen Augen die Haut gelb und durchsichtig scheint. Dann kommen fünf, sechs, die noch
ihre Opanken an den Füßen tragen, die Hände tief in die Hosentaschen gepreßt, die Män
tel liegen irgendwo draußen bei Baljevo. Und immer mehr Frierende, Verhungernde,
Kranke, ja Sterbende kommen über die Straße.