Volltext: Der Völkerkrieg Band 3 (3 / 1915)

266 Rußland während des ersten Kriegshalbjahres 
drei Wirtschaftsgebiete werden zusammengehalten durch eine großzügige, rücksichtslose 
Finanz- und Eisenbahnpolitik, die, unter dem Namen „System Witte", von dem be 
rühmten russischen Finanzminister Wischnegradski ins Leben gerufen wurde, und die, 
alle natürlichen Elemente des Zusammenschlusses zerstörend, Hand in Hand geht mit 
einer brutalen Unterdrückung der Selbstverwaltung, besonders in dem südlichen und 
nordwestlichen Teil, und die parallel geht mit einer an das Mittelalter erinnernden 
Nationalitäten- und Glaubenspolitik gegen die den Süden und Nordwesten des Reiches 
bewohnenden Deutschen, Juden, Esten, Letten, Finnen, Polen und Ukrainer. 
Die Petersburger Regierung spekuliert dabei auf eine natürliche Habgier ungebildeter 
Völker, und hat sich darin nicht getäuscht; die national-kulturellen Elemente sind neben 
den rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten so in den Hintergrund getreten, daß die russische 
Regierung bei Kriegsausbruch eine nationale Erhebung nirgends im Reich zu fürchten 
hatte, sich vielmehr höchstens vor sozialistischen Angriffen hüten mußte. 
Träger des großrussisch-moskowitischen Staatsgedankens ist aber in diesem Zusammen 
hange nicht etwa die wirtschaftliche Tüchtigkeit der Moskowiter, die den Grenzländern 
große Vorteile böte, sondern einzig und allein die Macht des internationalen Groß 
kapitals, das, über Moskau nach Petersburg geleitet, hinter den Ministern für Finanz, 
Handel und Verkehr, für Armee und Marine steht, und das auch in seiner sranzösisch- 
englisch-belgischen Verbindung den Ausbruch dieses Krieges betrieben hat. Wir müssen 
uns dessen erinnern, daß die gesamte Großindustrie mit alleiniger Ausnahme der elek 
trischen, die vorwiegend auf deutschem Kapital beruht, durch französisches und belgisches 
Geld finanziert ist, und daß die Finanzgruppen, die hinter den zahlreichen societes 
anonymes in Rußland stehen, im wesentlichen dieselben sind, die die russischen Aus 
ländsanleihen besorgen. Das gilt für die Grubengesellschaften im polnischen Kohlen 
gebiet von Dombrowa ebenso wie für die Hochöfen in Tula und die Erzhütten von 
Taganrog, Jekaterinoslaw; für Waggonfabriken und Kesselschmieden, landwirtschaftliche 
Maschinen-, Zement- und Zuckerfabriken, Elevatoren und andere mehr. Und wenn neben 
diesen die in deutschem Besitz befindlichen wenig zahlreichen Fabriken doch eine so große 
Rolle spielen können, so liegt das an der Tüchtigkeit ihrer Leiter, ihrer Zuverlässigkeit 
und andern moralischen Faktoren, über die die belgische und französische Konkurrenz nicht 
verfügt. Eine Ausnahmeerscheinung in diesem Bilde ist das Industriegebiet von Lodz, 
das aus deutscher Arbeit in kaum hundert Jahren herausgewachsen ist und demgemäß 
auch stärker mit dem deutschen Kapitalmarkt verbunden ist, als die übrigen Bezirke. 
Für die von uns verfochtene These ist dieser Umstand aber ohne Bedeutung, denn den 
großen Manufakturen von Lodz stehen ebensolche in Moskau gegenüber. 
Wollen wir also das russische Problem in einer uns nützlichen, den gewaltigen Opfern 
des Krieges entsprechenden Weise lösen, so kann es nicht unsere Aufgabe sein, die in 
Frage kommenden Volksstämme mit national-kulturellen Freiheiten zu locken, sondern 
lediglich durch die Aussicht auf wirtschaftliche Besserstellung. Die national-kulturelle 
Freiheit wäre eine so selbständige Notwendigkeit, daß jede Erörterung über Einzelheiten 
derselben bereits einer Beschränkung und unnötigen Einmischung ähnlich sähe. Aber 
eine solche Zurückhaltung wird uns um so leichter fallen, je mehr wir uns darüber klar 
sind, daß wir gerade bezüglich Rußlands viel weniger gegen die in ihm vereinigten 
Völkerschaften — mit Einschluß der Moskowiter — kämpfen, als gegen jene 'Finanz 
größen Belgiens und Frankreichs, die mit der Macht ihres Geldes das russische Volk 
ebenso bedrücken, wie sie uns zu erdrücken trachten. Da liegt unsere Interessengemein 
schaft. Das heutige Rußland besiegen bedeutet nicht seine Armeen schlagen, seine Völker 
unterwerfen, sondern die Herrschaft der Geldleute Frankreichs und Belgiens brechen, 
bedeutet kulturelle und soziale Befreiung aller Völker Rußlands."
	        
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