Volltext: Der Völkerkrieg Band 3 (3 / 1915)

Vom russischen Volk 
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manchmal acht, ja sogar zwanzig Kopeken für das Pfund. Die Produzenten sind ander 
seits gezwungen, das Fleisch um jeden Preis zu verkaufen, da ste ihr Vieh aus Mangel 
an Futter schlachten müssen; in ganz Nordrußland mache sich die Mißernte des Vieh 
futters empfindlich geltend. Ebenso schlimm stehe es mit den Preisen von Brot und 
Petroleum und besonders unangenehm empfunden werde der hohe Preis für Butter, dessen 
Ursache darin gesucht wird, daß am Anfang des Krieges der Export von Butter gestattet wurde. 
Schon die Ernte 1914 war in einzelnen Teilen des russischen Reiches schlecht aus 
gefallen. Das amtliche Organ des Finanzministeriums, die Zeitung für Handel und Industrie, 
gesteht ein, daß die Ernte des Jahres 1914 in 73 Gouvernements unter normal war. 
Keine Gegend hatte ein Plus zum Ausgleich des allgemeinen Minus aufzuweisen. Das 
Ministerium des Innern hat darauf in einer Denkschrift über die Lage in den Hunger 
gebieten festgestellt, daß die Kriegsnot so „schwer aus der Bevölkerung lastet", daß von 
der Einrichtung öffentlicher Arbeiten zur Linderung der Not gar keine Rede sein könne, 
zumal ja auch die meisten arbeitsfähigen Männer unter den Fahnen stünden. Man 
müsse daher wohl oder übel zu dem abgetanen Mittel der Notstandsdarlehen greifen. 
Berüchtigt ist diese Methode deshalb, weil sie wegen der Unzuverlässigkeit der Beamten 
und der Indolenz der Bevölkerung noch nie ihren Zweck, den wirklich Hungernden 
zu helfen, erreicht hat. Das Bild, das die russische Zeitung „Wirtschaftsökonomie" 
von den wirtschaftlichen Zuständen Rußlands Ende Februar 1915 gibt, ist noch viel 
düsterer. Sie schreibt: „15 bis 20 Prozent der Arbeiter fehlen für die Feld 
bestellung, ebensoviel fehlt an Arbeitsvieh. Im Süden, im Nordkaukasus und in Si 
birien ist bereits eine verkürzte Feldbestellung in den Wintersaaten eingetreten. Im 
Gouvernement Stawropol erreichte ste stellenweise 15 bis 20 Prozent der gewöhnlichen 
Anbaufläche. In dem Gouvernement Samara blieben (nach den Daten der Semstwo- 
verwaltung) in vier Kreisen bei 402 000 Deßjätinen Saatfläche 97 000 unbestellt. Im 
Gouvernement Tobolsk sind unbestellt 30 bis 50 Prozent der Saatfläche. In Polen 
und Litauen steht es vermutlich noch schlimmer. Insgesamt verringerte sich die Winter 
saatbestellung in 34 Gouvernements, in 38 ist ste unverändert, in 9 Gouvernements ver 
größert. In Nordrußland gibt es kein Sommersaatgetreide, in Südrußland keine Ar 
beiter. Die Frühjahrsarbeiten, die Maximalleistungen sein müßten, werden mit einem 
Minimum an Kräften und Geldmitteln ausgeführt. Die Folgen liegen auf der Hand." 
Vom rusiischm Volk 
Stimmungen und Wandlungen 
Bei Beginn des Krieges hatte die russische Regierung die innerpolitische Selbständig 
keit Polens und Finnlands und größere Freiheiten für die russische Bevölkerung in Aus 
sicht gestellt, um auf die beiden verbündeten westlichen Demokratien Eindruck zu machen 
und die Stimmung der kleinen neutralen Staaten zu beeinflussen. Die Hoffnungen auf 
einen freieren Kurs haben sich jedoch nicht verwirklicht und sind steigender Mißstimmung 
gewichen. Anfangs war der Krieg unbestreitbar populär, in erster Linie innerhalb der 
wohlhabenden Bürgerschaft, aber auch weit darüber hinaus beim Kleinbürgertum und 
bei der Bauernklafse. Die brutale Reaktion weckte jedoch andere Gefühle. Zahlreiche 
Verhaftungen politisch Verdächtiger fanden statt, vor allem unter den Arbeitern; allein 
in der ersten Hälfte des russischen November 1914 sind gegen 400 Verhaftungen von der 
politischen Polizei vorgenommen worden; besonders tief war der Eindruck der Ver 
haftung von fünf sozialistischen Dumamitgliedern (vgl. S. 264). Proteststreiks brachen 
aus, wobei, wie gewöhnlich, die Arbeiter der Putilow-Werke vorangingen, was be-
	        
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