248 Rußland während des ersten Kriegshalbjahres
Nach Miljukow sprachen Redner der Progressisten, der Oktobristen, des
Zentrums und der N a t i o n a l i st e n; sie betonten, daß Rußland den germanischen
Militarismus bekämpfe und die Gedanken der Menschenliebe, der Humanität und des
Rechts verteidige. Ein vorzeitiger Friedensschluß würde ein Verbrechen gegen Vaterland
und Humanität sein; folglich fei Rußland bereit zu jedem Opfer, bis Deutschland gänzlich
niedergeschlagen sei. Nur die Führer der Deutschen und Kleinrussen schwiegen, wäh
rend die Erklärung der Vertreter der Sozialdemokratie und Arbeitspartei, die
scharfe Kritik an der sofort nach Ausbruch des Krieges wieder reaktionär gewor
denen Haltung der Regierung übten, vom Vorsitzenden und von der Zensur unter
drückt wurde.
Am Schluß der Sitzung nahm die Duma einstimmig folgende Tagesordnung an:
„Die Duma neigt sich vor den ruhmreichen Taten unserer Krieger; sie sendet der russi
schen Armee und Flotte warme Grüße und unseren Verbündeten ihre aufrichtig gemeinte
Ehrenbezeugung, Achtung und Sympathie. Sie drückt das feste Vertrauen aus, daß die
großen nationalen und freiheitlichen Ziele des gegenwärtigen Krieges erreicht werden.
Sie spricht den unbeugsamen Entschluß des russischen Volkes aus, den Krieg zu führen,
bis die Bedingungen, die den Frieden Europas und die Wiederherstellung von Recht und
Gerechtigkeit sichern, dem Feinde aufgezwungen sind.
Ueber den Budget-Entwurf für 1915, den der Finanzminister in einem aus
führlichen Expose begründete, und den die Duma gegen die Stimmen der Sozialisten
annahm, wird in der zusammenfassenden Darstellung der wirtschaftlichen Verhält
nisse Rußlands während des ersten Kriegshalbjahres (vgl. S. 253 f.) berichtet.
Bereits am 11. Februar ist die Session der Duma durch kaiserlichen Ukas bis spätestens
Mitte Dezember 1915 wiederum unterbrächen worden. In der letzten Sitzung wur
den noch eine Anzahl von Resolutionen angenommen, u. a. daß die Regierung so schnell
wie möglich Maßnahmen ergreifen solle, um den Provinzen zu Hilfe zu kommen, die
unter den Kriegsoperationen leiden; ferner daß die Regierung ein Ergänzungsgesetz aus
arbeite, das den mit ihrer Mutter lebenden Kindern von Witwen Pensionen bewilligt
und die Unterstützung an Vater- und mutterlose Waisen von auf den Schlachtfeldern des
gegenwärtigen Krieges gefallenen Kriegern erhöht; und schließlich, daß im Ministerium
des Auswärtigen eine Kommission eingesetzt werde mit dem Zweck, die Oesterreicher,
Ungarn und die Türken aufzuklären über die Verletzungen des Völkerrechtes und der
Gesetze und Gebräuche des Krieges durch die Deutschen, sowie über die an öffentlichen
Einrichtungen und Zivilpersonen verübten Schädigungen.
Die Verhandlungen in der Reichsduma haben, wie die „Kölnische Zeitung" schreibt,
die Lage geklärt. „Alle Welt weiß jetzt, daß Regierung und Volksvertretung, soweit man
der Versammlung diesen Namen beilegen will, gemeinsam von dem Gedanken durch
drungen sind, der Preis des ihnen als sicher vorschwebenden Sieges über Deutschland,
Oesterreich-Ungarn und die Türkei müsse KonstantinopelunddieMeerengen
sein. Aber höchst bezeichnend ist, daß der Hauptredner des Hauses, der Kadett Miljukow,
es für angemessen hielt, auszusprechen, die Abgeordneten seien überzeugt, daß diese
Hauptaufgabe „rechtzeitig unter die nötigen diplomatischen und militärischen Sicher
heiten gestellt" werden müsse. Gegen wen soll diese Sicherheit gesucht werden? Die
Zentralmächte und die Pforte müssen ja besiegt sein, wenn das Ziel erreicht wird. Wer
bedroht dann den russischen Anspruch? Die Vergangenheit gibt den Aufschluß: nur Eng
land und Frankreich. Gegen die jetzigen Bundesgenossen in dem Raubzug gegen Deutsch
land und seine Verbündeten richtet sich also das Mißtrauen, das den Kadettenführer
und mit ihm wohl die Mehrzahl der politisch denkenden Russen beseelt."