236 Die Türkei und der Heilige Krieg bis zu den Dardanellen-Kämpfen
neben Dschawid Bei und Wassermann unter anderen auch Generaldirektor Guenther von
der Anatolischen Bahn und der ehemalige Finanzminister Nail angehören.
29. Januar 1915.
Der Generalgouverneur vom Libanon, Johannes Kujundjian, hat seine Ent
lassung nachgesucht. Die von den Großmächten auf Grund des Libanonstatuts zu voll
ziehende Wahl des Generalgouverneurs, die nachher durch die Pforte eine nur rein for
melle Anerkennung erhielt, wird nicht mehr stattfinden. Die Pforte erklärt das Libanon-
statut für nichtig; sie wird den Libanon von jetzt ab wie eine türkische Provinz verwalten.
Die Kriegstagung des türkischen Parlaments
Die Eröffnungssitzung
In ihrem Palais von Fyndykly, durch dessen Fenster die blaue Flut des Bosporus
unter frühlinghastem Himmel schimmert, waren die türkischen Kammern am 14. Dezem
ber 1914 zu feierlicher Kriegssitzung zusammengetreten; ihren Verlaus schildert der Be
richterstatter des „Berliner Tageblatts" folgendermaßen: „Fast schmucklos ist der kleine
weiße Saal, in dem die Abgesandten des türkischen Volkes tagen. Nur über dem Sitz
des Präsidenten glänzt in kunstvollem goldenem Zierat der Namenszug des Sultans
Muhammed Reschad. Still, mit tiefer Verbeugung begrüßen sich die Senatoren und De
putierten, unter denen das kluge Gesicht Dschawid Beis und viele andere frühere Minister
zu sehen sind. In ihrer goldgestickten Uniform erscheinen die Minister; breit, in ge
lassener Ruhe, Talaat, die wirkende Kraft dieses Landes, zart und zierlich der Großwesir,
der Aeghpter Said Halim Pascha; mitten unter ihnen die prachtvolle Erscheinung des
Scheich-ül-Jslam in weißem goldgesticktem Gewände, darunter das grüne Band vom
Großkreuz des Osmanieordens. In einer besonderen Loge haben die Mitglieder der
deutschen Militärmission Platz genommen, die dem heute bestehenden Waffenbündnis
mit der Türkei lebenden Ausdruck geben. Auch der deutsche Botschafter Freiherr v. Wan
genheim, Botschaftsrat v. Kühlmann und der erste Dragoman Weber sowie die Bot
schafter Oesterreich-Ungarns und Italiens kommen in Uniform zu dieser Sitzung. In
deutscher feldgrauer Uniform mit dem Marschallstab erscheint Freiherr v. der Goltz.
Dann beginnt die rotröckige kaiserliche Kapelle den Sultansmarsch zu schmettern. Sol
daten treten ins Gewehr und aus den Fenstern des Palastes sieht man den Sultan,
geleitet von zwei goldglänzenden tscherkessischen Reitern, in einem Hofwagen mit vier
wunderbaren, mächtigen Eisenschimmeln durch das Gittertor des Parlamentsgebäudes
fahren. Gebeugt, aber doch mit lebhaftem, frischem Blick entsteigt Muhammed Reschad
Chan in schwarzer goldgestickter Uniform dem Wagen. Wenige Minuten später erscheint
der Sultan in seiner Loge, gefolgt von dem Thronfolger Jussuf-Jssedin und einigen
anderen Prinzen, dem Khedive von Aegypten Abbas Hilmi, Freiherrn v. d. Goltz Pascha,
der zum erstenmal seinen Dienst als Generaladjutant verrichtet, dem Obereunuchen und
einigen anderen Würdenträgern. Stumm grüßt das Haus den Sultan und Khalifen
durch Erheben von den Sitzen. Aufmerksam, ein wenig über die Logenbrüstung gebeut,
hört Muhammed Reschad Chan die Thronrede mit an, die jetzt sein erster Sekretär
verliest. Sie lautete: „Ich sage Gott Dank, daß er in seiner Gnade mir erlaubt hat, nach
der dritten Erneuerungswahl die erste Session der Nationalversammlung zu eröffnen,
und heiße Sie willkommen. Während wir bemüht waren, allen auswärtigen Schwierig
keiten zuvorzukommen, indem wir die schwebenden Fragen zu beseitigen suchten, die von
Zeit zu Zeit unsere Beziehungen zu den Mächten trübten, und den Reformen und Fort
schritten im Innern einen frischen Aufschwung zu geben, um die Verluste und Uebel des
Balkankrieges sobald wie möglich zu heilen, brach plötzlich die große Krise aus, die ein
ungeheurer Angriff gegen den allgemeinen Frieden in Europa verursacht hat. Da die