188 Die Türkei und der Heilige Krieg bis zu den Dardanellen-Kämpfen
Ordnung in Aegypten schaffe, kam es zu einem Putsch der Nationalisten in Alexandria,
bei dem eine Anzahl Europäer getötet und viele verwundet wurden. Eine gemeinsame
Aktion der beiden Westmächte, die damals nahe gelegen wäre, kam nicht zustande, da
England sich nicht an Frankreich binden wollte und die Zeit gekommen sah, längst gehegte
Pläne allein zu verwirklichen. Unter ziemlich hohlem Vorwand bombardierten nun
die Engländer das überraschte und wehrlose Alexandria. So erreichten sie ihre Absicht,
neue Exzesse des Pöbels gegen die Europäer hervorzurufen, die ihnen dann den Vorwand
boten, die Stadt „zum Schutze der Europäer" zu besetzen. Im Anschluß daran kam
es zu einem Zusammenstoß mit dem ägyptischen Heere und nachdem die Engländer dieses
unschwer überwunden hatten, nahmen sie ganz Aegypten nebst dem Suezkanal in englische
Verwaltung. Seither hat die Türkei wiederholt bei England angefragt, ob und wann sie
auf eine Räumung Aegyptens rechnen dürfe. Stets ist sie mit ausweichenden Antworten
abgespeist worden, die sowohl den Sultan wie die anderen an dieser Frage interessierten
Mächte auf bessere Zeiten vertrösten sollten.
Am unangenehmsten von allen Nationen waren die Franzosen durch diese
Okkupation berührt, da sie keineswegs gewillt waren, die langjährige Vorzugsstellung
gutwillig aufzugeben, die sie sich in Aegypten geschaffen hatten. Immer wieder wurden
also Anstrengungen gemacht, den französischen Einfluß zu stärken und Einsprüche erhoben,
die, auf vertraglichen Rechten begründet, die britische Aktionsfreiheit stark beeinträchtigten.
Doch die Engländer erwiesen sich trotz aller französischen Schikanen immer wieder als die
stärkeren und gerisseneren Diplomaten. Die Stetigkeit der Londoner Politik, die auch
unter einem gelegentlichen Regierungswechsel nicht litt, erwies sich von bester Wirkung.
Allerdings muß erwähnt werden, daß die Franzosen seit 1870 durch ihre antideutsche
Politik in mancher Hinsicht an der energischen Durchführung ihrer ägyptischen Absichten
behindert waren; im übrigen zeigten sich die Engländer auch nicht gerade rücksichtsvoll in
der Wahl ihrer Mittel, und scheuten gelegentlich nicht vor Drohungen zurück, wenn die
Finessen nicht ausreichten. Für die durchtriebene politische Heuchelei, deren sich England
überall dort bedient, wo ihm die Anwendung brutaler Macht nicht zweckmäßig erscheint,
ist der Fall mit Aegypten ein Schulbeispiel, wie es lehrreicher in der Geschichte moderner
Diplomatie wohl nicht zu finden ist. Bei aller Empörung, die einen erfaßt, wenn man
dieses Thema eingehend studiert, muß man doch die zielbewußte, geduldige und umsichtige
Art der Engländer anerkennen, mit der sie die Zügel in Aegypten immer fester in die
Hand zu bekommen wußten, bis sie zuletzt die volle Gewalt über das Heer und die un
umschränkte Herrschaft in Politik und Verwaltung an sich gerissen hatten.
Lord Crom er, der von 1881 bis 1903 unter dem bescheidenen Titel eines eng
lischen Agenten und Beraters des Khediven Aegypten tatsächlich regierte, wird vielfach
als genialer Kolonisator des Landes gepriesen. Er wußte auch selbst feine Tätigkeit in
einem Buche über seine ägyptische Amtszeit ins schönste Licht zu rücken. Daß unter
seiner Leitung vielerlei großartige Anlagen geschaffen und der Handel mächtig gefördert
wurde und daß er Ordnung in die zerfahrene Wirtschaft gebracht hat, soll gewiß nicht
bestritten werden. Die glänzenden Erfolge, deren Cromer sich rühmt, beruhten aber leider
unter anderem auch darauf, daß er durch Unterstützung des Dorfwuchers und Zersplit
terung des bäuerlichen Besitzes eine Menge kleiner Existenzen in endlose Not und Küm
mernis stürzte. Mit unmenschlicher Härte wurde unter seiner Regierung das Bauernvolk
bei Eintreibung der Steuern und Zinsen geschunden; auch die Peitsche wurde dabei aus
giebig gebraucht. Hungersnöte, bei denen viele Tausende zum Besten der englischen
Rentner dahinsiechten, waren keine Seltenheit. Rothstein behauptet: „Die Engländer
haben in Aegypten absolut nichts neues geschaffen, aber vieles vernichtet...; ihre Haupt
leistung besteht darin, daß sie die Produktionskräfte des Landes ins Stocken gebracht und