Volltext: Der Völkerkrieg Band 3 (3 / 1915)

188 Die Türkei und der Heilige Krieg bis zu den Dardanellen-Kämpfen 
Ordnung in Aegypten schaffe, kam es zu einem Putsch der Nationalisten in Alexandria, 
bei dem eine Anzahl Europäer getötet und viele verwundet wurden. Eine gemeinsame 
Aktion der beiden Westmächte, die damals nahe gelegen wäre, kam nicht zustande, da 
England sich nicht an Frankreich binden wollte und die Zeit gekommen sah, längst gehegte 
Pläne allein zu verwirklichen. Unter ziemlich hohlem Vorwand bombardierten nun 
die Engländer das überraschte und wehrlose Alexandria. So erreichten sie ihre Absicht, 
neue Exzesse des Pöbels gegen die Europäer hervorzurufen, die ihnen dann den Vorwand 
boten, die Stadt „zum Schutze der Europäer" zu besetzen. Im Anschluß daran kam 
es zu einem Zusammenstoß mit dem ägyptischen Heere und nachdem die Engländer dieses 
unschwer überwunden hatten, nahmen sie ganz Aegypten nebst dem Suezkanal in englische 
Verwaltung. Seither hat die Türkei wiederholt bei England angefragt, ob und wann sie 
auf eine Räumung Aegyptens rechnen dürfe. Stets ist sie mit ausweichenden Antworten 
abgespeist worden, die sowohl den Sultan wie die anderen an dieser Frage interessierten 
Mächte auf bessere Zeiten vertrösten sollten. 
Am unangenehmsten von allen Nationen waren die Franzosen durch diese 
Okkupation berührt, da sie keineswegs gewillt waren, die langjährige Vorzugsstellung 
gutwillig aufzugeben, die sie sich in Aegypten geschaffen hatten. Immer wieder wurden 
also Anstrengungen gemacht, den französischen Einfluß zu stärken und Einsprüche erhoben, 
die, auf vertraglichen Rechten begründet, die britische Aktionsfreiheit stark beeinträchtigten. 
Doch die Engländer erwiesen sich trotz aller französischen Schikanen immer wieder als die 
stärkeren und gerisseneren Diplomaten. Die Stetigkeit der Londoner Politik, die auch 
unter einem gelegentlichen Regierungswechsel nicht litt, erwies sich von bester Wirkung. 
Allerdings muß erwähnt werden, daß die Franzosen seit 1870 durch ihre antideutsche 
Politik in mancher Hinsicht an der energischen Durchführung ihrer ägyptischen Absichten 
behindert waren; im übrigen zeigten sich die Engländer auch nicht gerade rücksichtsvoll in 
der Wahl ihrer Mittel, und scheuten gelegentlich nicht vor Drohungen zurück, wenn die 
Finessen nicht ausreichten. Für die durchtriebene politische Heuchelei, deren sich England 
überall dort bedient, wo ihm die Anwendung brutaler Macht nicht zweckmäßig erscheint, 
ist der Fall mit Aegypten ein Schulbeispiel, wie es lehrreicher in der Geschichte moderner 
Diplomatie wohl nicht zu finden ist. Bei aller Empörung, die einen erfaßt, wenn man 
dieses Thema eingehend studiert, muß man doch die zielbewußte, geduldige und umsichtige 
Art der Engländer anerkennen, mit der sie die Zügel in Aegypten immer fester in die 
Hand zu bekommen wußten, bis sie zuletzt die volle Gewalt über das Heer und die un 
umschränkte Herrschaft in Politik und Verwaltung an sich gerissen hatten. 
Lord Crom er, der von 1881 bis 1903 unter dem bescheidenen Titel eines eng 
lischen Agenten und Beraters des Khediven Aegypten tatsächlich regierte, wird vielfach 
als genialer Kolonisator des Landes gepriesen. Er wußte auch selbst feine Tätigkeit in 
einem Buche über seine ägyptische Amtszeit ins schönste Licht zu rücken. Daß unter 
seiner Leitung vielerlei großartige Anlagen geschaffen und der Handel mächtig gefördert 
wurde und daß er Ordnung in die zerfahrene Wirtschaft gebracht hat, soll gewiß nicht 
bestritten werden. Die glänzenden Erfolge, deren Cromer sich rühmt, beruhten aber leider 
unter anderem auch darauf, daß er durch Unterstützung des Dorfwuchers und Zersplit 
terung des bäuerlichen Besitzes eine Menge kleiner Existenzen in endlose Not und Küm 
mernis stürzte. Mit unmenschlicher Härte wurde unter seiner Regierung das Bauernvolk 
bei Eintreibung der Steuern und Zinsen geschunden; auch die Peitsche wurde dabei aus 
giebig gebraucht. Hungersnöte, bei denen viele Tausende zum Besten der englischen 
Rentner dahinsiechten, waren keine Seltenheit. Rothstein behauptet: „Die Engländer 
haben in Aegypten absolut nichts neues geschaffen, aber vieles vernichtet...; ihre Haupt 
leistung besteht darin, daß sie die Produktionskräfte des Landes ins Stocken gebracht und
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.