166 Die russischen Kriegsschauplätze bis zur Winterschlacht in Masuren
Unternehmung, und der leitende Geist begibt sich ebenso wenig in die Feuerlinie, wie der
Präsident einer großen Eisenbahngesellschast sich einen blauen Kittel anzieht und seinen
Platz auf der Lokomotive einnimmt. Hier in Rußland ist unter dem Befehl einer einzigen
Persönlichkeit das größte Heer versammelt, das jemals auf einem Schlachtfeld zusammen
kam, und der ganze komplizierte Mechanismus dieser ungeheuren Organisation hat
seinen Mittelpunkt an einem versteckten Fleck in den Ebenen Westrußlands. Es ist
eine liebliche Gegend, der man vom Kriege nicht viel anmerkt. In einem Wäldchen
von Pappeln und kleinen Fichten ist eine Anzahl von Geleisen gelegt, die mit der
Hauptlinie eines Eisenbahnstranges in Verbindung stehen, und hier in Eisenbahnwagen
leben ruhig und friedlich die hundert und mehr Männer, die den russischen
Generalstab bilden. Einige fauchende Automobile, die hin und her sausen, und
eine Schar von etwa 100 Kosaken sind augenscheinlich das einzige, was nicht zu dem
gewöhnlichen Leben des Dorfes gehört, das die nächste reguläre Station an der Eisen
bahn ist. Viele hundert Kilometer von diesem Bild der Ruhe entfernt dehnt sich die
ungeheuere Kette der russischen Front aus, von der ein jeder Punkt mit diesem Zug von
Waggons telegraphisch verbunden ist. Hier, geschieden von dem Chaos der Schlacht,
unbeeinflußt von dem Wirrwarr der Heeresmassen, ist das Gehirn der Armee imstande,
einen klaren und freien Ueverblick über das ganze Kriegstheater zu gewinnen, den eine
nähere Stellung nur verdunkeln würde."
„Was zwischen der Ostsee und den Karpathen geschieht," erzählt Naudeau in „Le
Journal", „wird sofort in den großen blauen Waggons bekannt, deren Tapeten Land
karten sind. Telegraph und Telephon melden den winzigsten Vorgang. Will der Genera
lissimus eine Stellung besichtigen oder mit einem Befehlshaber sprechen: immer ist eine
Lokomotive unter Dampf. Das Hauptquartier rollt plötzlich fort und kehrt, nach zwei
oder drei Tagen, mit seinen Archiven, seinem Generalstab, mit Restaurant und
Elektrizitätsmaschine, geräuschlos zurück. Wo ist der stets, auch in den dunkelsten Stunden,
von heiterem Lärm durchschwirrte Speisewagen aus der Zeit des mandschurischen Krieges?
Da wurden manchmal auch weibliche Stimmen hörbar. Zehn Jahre sind seit den Tagen
dieses großen Kolonialkrieges verstrichen; zehn Jahre ernster Arbeit. Die paar Köpfe, die
ich wieder erkenne, sind grau oder weiß geworden. Wo sind die mit Gold oder Silber
umwickelten Flaschen, deren Korken man, während die Japanerkanonen donnerten, in
munterer Laune springen ließ? Trinkgelage und wolkenlose Lustigkeit: Alles dahin.
Unter dem Großfürsten herrscht eiserne Zucht. Champagner und Liqueur darf im Heeres
bereich nicht verkauft werden, auch die Generalstabsoffiziere erhalten höchstens ein bißchen
Rotwein. Weh Jedem, der, hier oder irgendwo an der Front, wider dieses Gebot sündigt!
Die Eisenfaust des Großfürsten trifft, wenn es sein muß, auch die Größten, Berühmtesten.
An einem Nachbartifch erkenne ich einen Offizier, der, wie alle anderen, einfach, in
Khaki, gekleidet ist: den Großfürsten Khrill, der, als der „Petropawlowsk" vor Port
Arthur auf eine japanische Mine gestoßen war, gerettet wurde. Auch das stolze Antlitz
des Generalissimus, des Großfürsten Nikolai, ist in dem Rahmen dieses ernsten
Raumes manchmal zu sehen. Scheu naht man dem Feldherrn, auf dem alle Verant
wortlichkeit ruht; und die Haltung des Mannes, der das russische Heer zum Sieg führen
soll, ermutigt nicht zu Vertraulichkeit. Neben ihm erblicke ich Januschkewitsch,den
Chef des Großen Generalstabes, mit dem sanften, fast noch jünglinghaften Kopf eines
stillen Denkers und den Quartiermeister D a n i l o w, den Ur- und Nur-Russen, dem
man den Beinamen „der schwarze Danilow" gegeben und oft die Rolle einer Grauen
Eminenz zugeschrieben hat. Die einzigen Fremden, die in dem rollenden Hauptquartier
wohnen dürfen, sind die Militärbevollmächtigten der Verbündeten. Hier ist, in Khaki
mit der Russenmütze, der französische General Marquis de la Guiche, zugleich