108 Die russischen Kriegsschauplätze bis zur Winterschlacht in Masuren
fallgesechte statt, um das Vorfeld von den russischen Stützpunkten zu säubern und durch
fortgesetzte Beunruhigung größere russische Truppenmassen vor Przemysl fest- und von
einem Eingreifen in die damals heftig tobenden Kämpfe bei Limanova abzuhalten. Sonst
beschränkten sich die Kämpfe auf die Abwehr russischer Angriffe, die stets mit großen Ver
lusten für den Feind zurückgeschlagen wurden. Auf kampfreiche Tage folgten Wochen der
Ruhe, so daß die Besatzung auch das Weihnachtsfest in feierlicher Stille begehen konnte.
Ueberall in den Mannschaftsräumen, Kasinos und bei den Feldwachen gab es Christ
bäume; eine besondere Ueberraschung aber verursachte ein russischer Weihnachtsgruß,
der den österreichisch-ungarischen Truppen zugesandt wurde: „Wir wünschen allen den
heldenmütigen Verteidigern der Festung Przemysl ein ruhiges und frohes Weihnachts
fest. Freude und Frieden sei auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Gott gebe
die Erfüllung aller ihrer Wünsche! Das ist der aufrichtige und innigste Wunsch der
Offiziere und Mannschaften der fünften Batterie der zehnten Artilleriebrigade."
Nach einer längeren Ruhepause ließen die Russen gegen die vorgeschobenen und feld
mäßig ausgebauten österreichischen Stellungen Sturm laufen. Da jedoch die russischen
Soldaten die grauenhaften Todesszenen bei dem früheren Generalsturm noch in Erinnerung
hatten, kam es wiederholt zu Gehorsamsverweigerungen der zum Sturm befohlenen
Truppen. Die Meuterer wurden von starken Aufgeboten ihrer eigenen Armee umzingelt,
entwaffnet und gefesselt in Richtung Lemberg abtransportiert. Die stürmenden Truppen
sind wie bei der ersten Belagerung auch diesmal von den russischen Offizieren durch
Maschinengewehrfeuer und Knutenhiebe vorwärts getrieben worden. Was dabei nicht
schon an den Drahtverhauen den Tod fand, wurde durch das vernichtende Feuer der
Festungsartillerie aufgerieben. Ein besonders blutiger Tag war jener, an dem die Russen
versuchten, schwere Batterien im Vorfeld in Stellung zu bringen. Ein vom wohlgezielten
Artilleriefeuer der Forts unterstützter Ausfall der Besatzung zerstörte die halbfertige
russische Stellung und trieb die Bemannung zurück. Stürmende Bataillone, die den
verlorenen Posten wiedergewinnen wollten, wurden niedergeschlagen. Nach Mitteilungen
aus dem Kriegspressequartier sollen die Russen vor Przemysl bis Mitte Januar 1915
bereits mehr als 10000 Tote verloren haben, ja, gefangene russische Offiziere schätzten
die Gesamtverluste einschließlich der Kranken und Verwundeten auf über 25 000 Mann.
Von der Russenherrschaft in den befreiten Gebieten Galiziens und in Ungarn
Nach dem Rückzug der Russen aus Ost-Galizien und Ungarn wurden Einzelheiten be
kannt, die bezeichnende Streiflichter auf die Demoralisation der russischen Soldaten und
die „ehrenhafte" Gesinnung vieler ihrer Offiziere werfen. In fast allen von den Russen
besetzten Gemeinden waren Diebstahl, Plünderung, Sittenlosigkeit und Raubmord an der
Tagesordnung gewesen, da auch die wenigen charaktervollen höheren Offiziere nicht im
stande waren, den zügellosen Ausschweifungen einer tierisch brutalen Soldateska wirk
sam entgegenzutreten. Allgemein wird Generalleutnant Dragomirow, der in Neu-
Sander einige Zeit das Stadtkommando führte, als gerecht und entgegenkommend
geschildert; aber auch er konnte nicht verhindern, daß die Kosaken sich betranken und
plünderten, obwohl alle Branntweinvorräte in die Kanäle gegossen und alle Aus
schreitungen russischer Soldaten streng bestraft wurden. Roda-Roda erzählt in der
„Neuen Freien Presse": „Die Russen haben die Stadt arm gegessen, alles Mehl, Stroh,
Schmalz, den Hafer und Kaffee, die Bohnen aufgebraucht. Allerdings bezahlten sie, was
sie nahmen, rechneten aber den Rubel für 3 Kronen 33 Heller an. Was der Bürger den
Russen nie verzeihen wird: sie haben das historische Jagielloschloß ausgeraubt. Und die
Frauen zürnen den Russen, weil sie sämtliche Hühner stahlen. Als die österreichisch
ungarischen Truppen Mitte Dezember 1914 die Stadt befreiten und mit Scharen ruf-