Volltext: Kommentar zu den deutschen Dokumenten zum Kriegsausbruch (5 / 1920)

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land seine Mobilmachung einstelle, Deutschland sich dafür ver¬ 
bürge, daß auch Oesterreich gegenüber Rußland das Gleiche tun 
werde. Tatsächlich scheint man sich Wien gegenüber auf die 
telephonische Mitteilung beschränkt zu haben, daß die Absicht be¬ 
stehe, „ein Ultimatum an Rußland wegen Einstellung der Mobil¬ 
machung zu richten“ (G. Seite 308, Abs. 6). 
Weit verhängnisvoller war etwa anderes. Der deutsche Kriegs¬ 
plan wollte, wie wohl den Generalstäben aller Länder bekannt war, 
im Osten nur eine geringe Anzahl Korps belassen, die Masse aber 
ohne Zeitverlust gegen Westen werfen. Deshalb wurde gleichzeitig 
mit dem nach Petersburg gehenden zwölfstündigen Ultimatum auch 
nach Paris eine auf 18 Stunden befristete Anfrage gerichtet, ob 
Frankreich „in einem russisch-deutschen Kriege neutral bleiben 
wolle“ (D. Nr. 491). Besonders schlimm war es, daß man in 
einem geheimen Zusatz für den wenig wahrscheinlichen Fall einer 
französischen Neutralitätserklärung die Besetzung der Festungen 
Toul und Verdun „als Pfand“ fordern zu müssen glaubte, was 
zweifelsohne eine gänzlich unannehmbare Forderung bedeutete, die 
auch ein Jaures mit Entrüstung zurückgewiesen hätte. Man darf 
die Frage aufwerfen, ob das Ultimatum an Frankreich so früh nötig 
war. Gab Rußland innerhalb einer bestimmten Frist keine oder 
eine abschlägige Antwort, so erging der deutsche Mobilmachungs¬ 
befehl, und diesem folgte doch zweifelsohne sofort der französische, 
worauf die Stellung der Anfrage in Paris, ohne den unannehm¬ 
baren geheimen Zusatz, gerechtfertigt gewesen wäre. 
Man kann daher zu dem Schlüsse kommen, daß die Anfrage 
in Petersburg anders zu fassen, die nach Paris aber vorläufig ent¬ 
behrlich gewesen wäre. Aber auch in solchem Falle würden die Er¬ 
eignisse kaum anders verlaufen sein. Rußland hätte seine Mobil¬ 
machung nicht rückgängig gemacht, denn die Demobilisierung, von 
Millionenheeren ist nicht so einfach, wie Kautsky auf Seite 136 an¬ 
nimmt. Die militärische Begründung, die Zurücknahme einer 
Mobilmachung sei „technisch unmöglich“, ist zwar nicht wörtlich 
dahin zu verstehen, daß ein solcher Gegenbefehl überhaupt nicht 
durchführbar sei, aber die Unterbrechung oder Einstellung einer 
Massenmobilmachung ruft derartige Störungen in den militärischen 
Vorbereitungen und im Verkehrswesen hervor, daß der betreffende 
Staat für längere Zeit in einen Zustand operativer Unterlegenheit 
gerät, den während politischer Krisen kein Staatsmann wird ver¬ 
antworten können. Wenn aber Rußland nicht demobilisierte, 
mußte Deutschland mobil machen, Frankreich mußte folgen. 
Bei dem Vergleich der nach Petersburg und Paris gerichteten 
Anfragen wird hervorgehoben, daß in der ersteren der „ent¬ 
scheidende Satz“ fehlte, „die Mobilmachung bedeute unvermeid¬ 
lich Krieg“ (K. Seite 137). Dazu ist zu bemerken, daß die Auf-
	        
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