Volltext: Kommentar zu den deutschen Dokumenten zum Kriegsausbruch (5 / 1920)

18 
gehandelt hätte, so würde vermutlich ein Eingreifen Rußlands und 
damit die Ausdehnung des Konflikts nicht erleichtert, sondern 
erschwert worden sein. Kautsky selbst schreibt, daß man 
hoffte, „durch Ueberrumpelung mit der Kriegserklärung (er¬ 
gänze: an Serbien) den Weltfrieden zu erhalten“ (K. Seite 64). 
Es ist zudem vom r'e a 1 p o 1 i t i s c h e n Standpunkte aus gar 
nicht erwiesen, daß diese Rechnung „falsch“ war: die Probe darauf 
wurde nicht gemacht, denn es ist ja zu dem in Berlin gewünschten 
raschen Handeln nicht gekommen. 
Daß die an Serbien zu stellenden Forderungen in Berlin, 
obwohl nicht in allen Einzelheiten bekannt, als unannehmbar ange¬ 
sehen wurden, ist längst kein Geheimnis mehr. Daß man über¬ 
haupt in Berlin, ebenso wie in Wien, die kriegerische Auseinander¬ 
setzung mit iS e r b i ,e n, wünschte, hat auch die deutsche 
Viererkommission in Versailles mit aller Deutlichkeit ausgesprochen 
und hinzugefügt, daß „heute die Welt sich nach einem Völkerbund 
sehne, in dem militärische Maßnahmen nicht miehr zulässig sind, 
und in dem alle Nationen, ob groß oder klein, ob stark oder schwach, 
die gleichen politischen und wirtschaftlichen Rechte genießen“. 
Seitdem ist durch die österreichischen Veröffentlichungen als neue 
Tatsache noch bekannt geworden, daß man in Wien die in Pots¬ 
dam erhaltene Zusage der Rückendeckung durch Deutschland 
in einem sehr weitgehenden Sinne auslegte, und1 daß die öster¬ 
reichischen Beteuerungen, serbisches Gebiet nicht annektieren zu 
wollen, mit der durchaus verwerflichen und heuchlerischen 
doppelten reservatio mentalis „strategisch notwendiger Grenz¬ 
berichtigungen“ — worunter natürlich alles Mögliche verstanden 
werden kann — und der „Verkleinerung Serbiens zugunsten 
anderer Staaten“ gemacht worden sind (Protokoll vom 19. Juli 
1914. Rotbuch 1919 Nr. 26). 
Aber so scharf man auch solche Hintergedanken und das am 
23. Juli in Belgrad übergebene, nach Form und Inhalt das be¬ 
rechtigte Selbstgefühl der Serben aufs tiefste verletzende Ultimatum 
verdammen muß, so bleibt heute, nach dem Versailler Frieden, 
ein solches Urteil einseitig und parteiisch, wenn man nicht hinzu¬ 
fügt, daß seitdem die Welt viel Schlimmeres erlebt hat, so daß 
die österreichische Note weit zurücksteht hinter den unzähligen 
Ultimaten, mit denen die Entente das wehrlose deutsche Volk über¬ 
schüttet hat. Worüber hat die öffentliche Meinung im Juli 1914 
sich am meisten aufgeregt? Ueber die Punkte 5 und 6, denen 
zufolge die Teilnahme österreichisch-ungarischer Beamter an der 
Unterdrückung der großserbischen Agitation und an den gericht¬ 
lichen Untersuchungen gegen die der Mithilfe am Attentat vom 
28. Juni verdächtigen serbischen Beamten und Offiziere gefordert
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.