Volltext: Kommentar zu den deutschen Dokumenten zum Kriegsausbruch (5 / 1920)

Die Veröffentlichung des deutschen Aktenmaterials wird 
keineswegs den Streit der Meinungen über die Schuldfrage zum 
Schweigen bringen. Aus 900 Dokumenten kann jedermann 
leicht eine Zusammenstellung der Urkunden machen, die seine 
vorgefaßte Meinung zu rechtfertigen scheinen. Für einen Kenner 
des gesamten Materials wäre es eine Kleinigkeit, fünf oder mehr 
verschiedene Darstellungen der diplomatischen Hergänge des 
Juli 1914 zu schreiben und sie „überzeugend“ mit Material zu 
belegen. Eine dieser Versionen hat in weitherziger Auslegung 
der mit Ablegung des Beamteneides von ihm übernommenen 
Verpflichtungen Karl Kautsky zugleich mit der deutschen Akten¬ 
sammlung erscheinen lassen. Der Geschäftssinn von Journalisten 
und Verlegern sorgte dafür, daß die ewig sensationslüsterne Mit¬ 
welt, die stets bereit ist, Deutschland Ungünstiges ihr Ohr zu 
leihen, die Auffassung Kautskys vernahm, ehe sie Gelegenheit 
hatte, sich selbst ein Urteil zu bilden. 
Der Streit der Meinungen über die Entstehung des Welt¬ 
krieges wird zu unseren Lebzeiten nie zur Ruhe kommen, und 
wir Deutschen können und dürfen die Erörterung dieser Frage 
nicht einschlafen lassen, da der Friedensvertrag von Versailles, 
der unsere Zukunft bestimmt, auf dem erzwungenen Geständnis 
von Deutschlands alleiniger Schuld am Kriege aufgebaut 
ist. Jede Aussicht auf Revision des Vertrages ist bedingt von der 
Möglichkeit, diesen Grundpfeiler des „Straffriedens“ zu er¬ 
schüttern. 
Die Aufgabe der folgenden Schrift ist nicht, eine Lesart des 
deutschen Aktenmaterials zu geben; sie soll vielmehr dem Ver¬ 
such dienen, die Prüfung des Materials vom Buchstaben loszu¬ 
lösen, die diplomatisch wichtigsten Vorgänge herauszugreifen 
und den Rahmen der Erörterung so weit zu stecken, daß eine 
objektive Beurteilung der Vorgänge bei Kriegsausbruch möglich 
wird. Von dem Nachwort abgesehen, sind Schlußfolgerungen 
vermieden worden, wo sie entbehrt werden konnten. Absichtlich 
ist stets nur voraugustischen Anschauungen Rechnung getragen 
worden, denn dies ist für eine gerechte Würdigung der Gescheh¬ 
nisse erforderlich. Daß die deutsche Regierung 1914 nicht aus 
Pazifisten zusammengesetzt war, ist bekannt. Ihr dies nachträglich 
zum Vorwurf zu machen, wäre ungerecht. Die Regierungen 
unserer Gegner waren ebensowenig, und noch viel weniger, pazi¬ 
fistisch. Jede Schuldfrage ist relativ, nicht absolut. Für die 
Beurteilung politischer Handlungen gibt es kein Strafgesetzbuch. 
Pazifisten, die der Wechsel der Zeiten zum Richter der früher 
Regierenden erhoben hat, können auch beim besten Willen nur 
ungerecht urteilen. Schuld und Unschuld lassen sich niemals
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.