Anthropologie.
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* Ebendas. § 405. Zus. S. 151.
Das Selbst der Individualität ist nicht bloß das einheitliche
Wesen, welches alle Mannichfaltigkeit des Lebens und der Lebens
richtungen in sich schließt, sondern als solches auch der herrschende
Charakter, der die Lebenswege bereitet und führt. Dieses herrschende
Selbst, das jedem Individuum inwohnt und dessen eigentliches Wesen
ausmacht, am deutlichsten und interessantesten in den großen und be
deutsamen Menschen hervortritt, könnte man mit einem stoischen Aus
druck das ^7§pl.ov^ov, mit einem goetheschen das Dämonische nennen;
Hegel hat es den Genius genannt und in folgenden Worten sich am
klarsten darüber ausgesprochen. „Unter dem Genius haben wir die
in allen Lagen und Verhältnissen des Menschen über dessen Thun und
Schicksal entscheidende Besonderheit desselben zu verstehen. Ich bin
nämlich ein Zwiefaches in mir, — einerseits das, als was ich mich
nach meinem äußerlichen Leben und nach meinen allgemeinen
Vorstellungen weiß — und andererseits das, was ich in meinem auf
besondere Weise bestimmten Innern bin. Diese Besonderheit meines
Innern macht mein Verhängniß aus, denn sie ist das Orakel, von
dessen Ausspruch alle Entschließungen des Individuums abhängen, sie
bildet das Objective, welches sich von dem Innern des Charakters
heraus geltend macht. Daß die Umstände und Verhältnisse, in denen
das Individuum sich befindet, dem Schicksal desselben gerade diese
und keine andere Richtung geben, das liegt nicht bloß in ihnen, in
ihrer Eigenthümlichkeit, noch auch bloß in der allgemeinen Natur
des Individuums, sondern zugleich in dessen Besonderheit."'
Die Alten haben die Genien als die Schutzgeister der Individuen
genommen und von ihnen unterschieden, als ob sie besondere Wesen
für sich seien. Der Genius ist das innerste Wesen des Individuums
selbst, er ist seine Besonderheit. Das denkwürdigste Beispiel eines
solchen Genius, einer solchen Besonderheit, welches Hegel hier nicht
angeführt hat, ist das Dämonium des Sokrates.
Die Wirksamkeit des Genius geschieht ohne alle Reflexion, d. h.
reflexionslos oder unbewußt; sie geschieht ohne alles Räsonnement
mit seinen Gründen und Folgerungen, also ohne alle Mittelglieder,
d. h. vermittlungslos oder unmittelbar. Diese Art der Wirksam
keit nennt Hegel magisch und den Genius deshalb „die fühlende
Seele in ihrer Unmittelbarkeit". Ein Beispiel dieser magischen