Die Poesie«
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Unterschiede von der entwickelten Prosa sich derselben als die poetische
Ausdrucksweise entgegensetzen, wie es bei den römischen Dichtern und
bei den französischen der classischen Zeit der Fall war. Dann geht
die Sprache der Poesie auf den Effect und gestaltet sich rhetorisch
und dcclamatorisch, wodurch die innere Naturwahrheit gefährdet wird.
Die poetische Diction darf sich nicht für sich verselbständigen und zu
dem Theile der Poesie machen wollen, auf den es eigentlich und aus
schließlich ankomme. Auch in sprachlicher Rücksicht darf das besonnen
Gebildete nie den Eindruck der Unbefangenheit verlieren, sondern muß
immer noch den Anschein geben, gleichsam wie von selber aus dem
inneren Keim der Sache emporgewachsen zu sein?
Die Poesie will sprechen und gesprochen sein, ihre Worte wollen
tönen und klingen, gemessen und gereimt werden. Dies geschieht durch
die Versification. Versificirte Prosa giebt keine Poesie, sondern
nur Verse, wie der bloß poetische Ausdruck bei sonstiger prosaischer
Behandlung nur eine poetische Prosa zu Wege bringt; doch ist es eine
oberflächliche und falsche Theorie, wenn man, wie Lessing in seiner
Opposition wider das falsche Pathos des französischen Alexandriners,
die Versification aus der Sprache der Poesie, insbesondere auch des
Dramas, deshalb verbannen wollte, weil sie der Natürlichkeit zu
widerlaufe. Goethe und Schiller sind ihm zunächst gefolgt, dann aber
mit ihm selbst zur versificirten Sprache im Drama zurückgekehrt:
Lessing im Nathan, Goethe in der Umgestaltung seiner Iphigenie,
Schiller im Don Karlos.
Die Versification ist keine Hemmung und hindert weder den Hörer
noch den Dichter. Im Gegentheil: das rhythmische Hinströmen und
der melodische Klang des Reims üben einen unbestreitbaren Zauber
aus, und das echte Kunsttalent bewegt sich in seinem sinnlichen
Material wie in seinem eigentlichsten heimischen Elemente, welches den
Künstler statt zu hindern und zu drücken, vielmehr hebt und trägt. (Hier
hätte Goethe genannt und darauf hingewiesen werden sollen, wie seine
Verse und Reime fließen, als ob sie nicht ersonnen und gemacht, sondern
gefunden wären, geschöpft aus den Goldadern der Sprache.) Die Versi-
stcation der Sprache, rhythmisch und klangreich, ist auch eine Musik.
Das rhythmische System der Versification gründet sich auf die
Quantität der Wörter, die Länge und Kürze, d. h. auf das Zeit-
Ebendas. S. 282-288.