Volltext: Hegels Leben, Werke und Lehre. [8. Band. Zweiter Theil] (8,2 / 1901)

Die Poesie« 
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Unterschiede von der entwickelten Prosa sich derselben als die poetische 
Ausdrucksweise entgegensetzen, wie es bei den römischen Dichtern und 
bei den französischen der classischen Zeit der Fall war. Dann geht 
die Sprache der Poesie auf den Effect und gestaltet sich rhetorisch 
und dcclamatorisch, wodurch die innere Naturwahrheit gefährdet wird. 
Die poetische Diction darf sich nicht für sich verselbständigen und zu 
dem Theile der Poesie machen wollen, auf den es eigentlich und aus 
schließlich ankomme. Auch in sprachlicher Rücksicht darf das besonnen 
Gebildete nie den Eindruck der Unbefangenheit verlieren, sondern muß 
immer noch den Anschein geben, gleichsam wie von selber aus dem 
inneren Keim der Sache emporgewachsen zu sein? 
Die Poesie will sprechen und gesprochen sein, ihre Worte wollen 
tönen und klingen, gemessen und gereimt werden. Dies geschieht durch 
die Versification. Versificirte Prosa giebt keine Poesie, sondern 
nur Verse, wie der bloß poetische Ausdruck bei sonstiger prosaischer 
Behandlung nur eine poetische Prosa zu Wege bringt; doch ist es eine 
oberflächliche und falsche Theorie, wenn man, wie Lessing in seiner 
Opposition wider das falsche Pathos des französischen Alexandriners, 
die Versification aus der Sprache der Poesie, insbesondere auch des 
Dramas, deshalb verbannen wollte, weil sie der Natürlichkeit zu 
widerlaufe. Goethe und Schiller sind ihm zunächst gefolgt, dann aber 
mit ihm selbst zur versificirten Sprache im Drama zurückgekehrt: 
Lessing im Nathan, Goethe in der Umgestaltung seiner Iphigenie, 
Schiller im Don Karlos. 
Die Versification ist keine Hemmung und hindert weder den Hörer 
noch den Dichter. Im Gegentheil: das rhythmische Hinströmen und 
der melodische Klang des Reims üben einen unbestreitbaren Zauber 
aus, und das echte Kunsttalent bewegt sich in seinem sinnlichen 
Material wie in seinem eigentlichsten heimischen Elemente, welches den 
Künstler statt zu hindern und zu drücken, vielmehr hebt und trägt. (Hier 
hätte Goethe genannt und darauf hingewiesen werden sollen, wie seine 
Verse und Reime fließen, als ob sie nicht ersonnen und gemacht, sondern 
gefunden wären, geschöpft aus den Goldadern der Sprache.) Die Versi- 
stcation der Sprache, rhythmisch und klangreich, ist auch eine Musik. 
Das rhythmische System der Versification gründet sich auf die 
Quantität der Wörter, die Länge und Kürze, d. h. auf das Zeit- 
Ebendas. S. 282-288.
	        
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