Volltext: Hegels Leben, Werke und Lehre. [8. Band. Zweiter Theil] (8,2 / 1901)

Die orientalische Welt. 
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Mannichfaltigkeit und Vielheit, in der Einheit mit welchem der höchste 
Zustand der Seligkeit und Gottwerdung besteht. In der Weisheit der 
Brahmanen, die als Kaste die Vedas, diese Ur- und Grundbücher der 
Inder, lesen müssen und allein lesen dürfen, ist dieser Zustand vor 
handen, sie sind die gegenwärtigen Götter, wogegen die Nichtbrahmanen 
diesen Zustand nur auf dem Wege der Poga, d. i. der Sammlung 
und Abtödtung aller Weltlichkeit in einer langen Stufenleiter sinn 
losester ascetischer Qualen erreichen können. Mit dieser Grnndanschau- 
ung von der Nichtigkeit und dem Unwerthe des Daseins hängt die 
Lebensverachtung und freiwillige Tödtung zusammen, die sich in den 
indischen Sitten förmlich ausgeprägt hat und darin zeigt, daß sich die 
Frauen mit der Leiche des Mannes verbrennen, und in Orissa am 
bengalischen Meer die Leute massenweise sich unter den Götterwagen, 
der das Bild Wischnus trägt, werfen, um sich zermalmen zu lassen. 
Gewohnte Lebensverachtung führt zur Selbstverachtung, Weg- 
werfung und Verworfenheit, daher die zügellosen Laster und Aus 
schweifungen, die sich im Leben der Inder, auch in dem der Brahmanen, 
selbst im Cultus vorfinden. Man tödtet kein Thier und gründet 
Hospitale für alte Affen und Kühe, während man arme und kranke 
Menschen ohne Mitleid umkommen läßt? 
Die Lehre vom Brahm als dem All-Einen ist Pantheis 
mus, die Lehre von der Maja, nach welcher die Welt, die wir vor 
stellen, eine bloße Schein- und Traumwelt ist, nichts anderes enthaltend 
als unsere subjectiven Einbildungen, ist Idealismus. Darum nennt 
Hegel den Standpunkt des indischen Bewußtseins „den Idealismus 
des Daseins", auch „den Pantheismus der Einbildungskraft". „Man 
kann sagen: es ist Gott im Taumel seines Träumens, was wir hier 
vorgestellt sehen. Denn es ist nicht das Träumen eines empirischen 
Subjects, das seine bestimmte Persönlichkeit hat und eigentlich nur 
diese ausschließt, sondern es ist das Träumen des unbeschränkten Geistes 
selbst.'' 2 
Im Gegensatze zu China, wo durchgängig die nüchternste Prosa 
herrscht, ist Indien das Land der Empfindung und Phantasie, das 
Wunderland, welches alle Schätze der Natur und Welt in sich schließt. 
Sprache und Dichtung sind Werke der Phantasie. Aus dem Geiste 
der arischen Inder ist die vollkommenste, in ihren Formen reichste und 
i Ebendas. S. 193 u. 194. — - Ebendas. S. 170. 
Fischer, Gesch. d. Philos. VIII. N. A. 
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