Die Moralität.
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Es ist ja der uns ganz vertraute Grundgedanke der hegelschen
Lehre, daß sich die Idee des Guten in der Welt realisire, weshalb
zwischen ihr und der natürlichen Ordnung der Dinge, wozu auch der
natürliche Wille mit seinen Trieben und Neigungen gehört, kein be
ständiger feindseliger Kampf herrschen könne, weshalb auch die Gerech
tigkeit nicht auf Kosten der Welt bestehe und sich keineswegs mit deren
Vernichtung vertrage. Aus dem «fiat justitia» folge keineswegs «per-
eat mundus», vielmehr das Gegentheil. „Das Gute ist die reali-
sirte Freiheit, der absolute Endzweck der Welt."
Der Dualismus zwischen Moralität und Wirklichkeit ist für die
kantische Lehre ebenso wesentlich und charakteristisch wie das Gegentheil
desselben für die hegelsche. Alle darin enthaltenen Widersprüche, von
denen das moralische Bewußtsein betroffen wird, indem es einen abso
luten Zweck erstreben muß, aber nicht erreichen kann, auch nicht soll,
sind schon früher in der Entwicklung, „des seiner selbst gewissen oder
moralischen Geistes" zur Sprache gebracht worden. Wir beziehen uns
auf diese Stellen der Phänomenologie zurück, wie es Hegel hier in
seiner Rechtsphilosophie selbst thut?
Auf dem Standpunkt der pstichtmäßigen Moralität erscheint und
ist die Objectivität des Guten unmöglich. Die pflichtmäßige Morali
tät sagt: „du sollst unbedingt, also du kannst!" Sie sagt: „du
sollst ins Endlose und kannst das Ziel nie erreichen, also du kannst
nicht". Das beständige Seinsollen ist ein beständiges Nichtsein. Da
gegen erhebt sich das Gewissen in seiner unerschütterlichen Selbstgewiß
heit und Machtvollkommenheit, die allen objectiven Inhalt verflüchtigt
und auflöst, und sagt: „Aber ich kann! Ich bin nicht der Diener,
sondern der Herr der Moralität!" Das Gewissen sagt, wie der macht
vollkommenste aller Monarchen vom Staat: „c’est Moi, die Moral
bin Ich, Ich mache die Moral". „Meine Gefühle sind das Gute."
So sagt das Gewissen als „schöne Seele". „Meine Eingebungen sind
das Gute." So sagt das Gewissen als moralische Genialität. „Meine
Pläsir ist das Gute." So sagt das Gewissen als die böse Willkür.
Weg mit der Pflichtenmoral und her mit der Herrenmoral!
Diese Herrenmoral „jenseits des Guten und Bösen", welche man heut-
kannsche Moralität sei der perennirende feindselige Kampf gegen die eigene Be
friedigung und die Forderung: «Mit Abscheu zu thun, was die Pflicht gebeut».
* Ebendas. §§ 129 u. 180. 6.167. — 2 Ebendas. § 135. 6.172-174.
Vgl. Bd. II. 6. 460-492. 6. oben Buch II. Cap. XI. 6. 407—412.