Der mittelalterliche bosnische Staat selbst, dessen Mittelpunkt die
westlich vom Flusse Rama liegenden Gebiete waren, hatte im Laufe
der Zeit ebenfalls verschiedene territoriale Veränderungen erfahren
und hatte auch seinerseits zeitweise Gebiete des kroatischen und ser¬
bischen Staates erfaßt.
Infolge der türkischen Eroberung, die sich weit bis in das Ungar¬
land erstreckte, sind alle diese Gebiete unter die türkische Herrschaft
gelangt.
Bosnische und herzegowinische Grundbesitzer sind, um ihrer
Ländereien nicht verlustig zu gehen, vielfach zum mohammedanischen
Glauben übergetreten. Schon von diesem Zeitpunkte ab ist die
Unterscheidung der Bevölkerung nicht nach nationalen Gesichts¬
punkten, sondern nach ihrer religiösen Zugehörigkeit maßgebend
gewesen (serbisch-orthodoxe, kroatisch-katholische und mohammeda¬
nische Bosnier).
Vom Standpunkte des Nationalitätsprinzips ging die historische
Auffassung, die von Leopold von Ranke1), Constantin Jirecek* 2), Paul
Josef Safärik3), Benjamin von Källay4) und anderen angesehenen
Historikern vertreten wurde, dahin, daß die bosnische Bevölkerung
in ihrer großen Mehrheit serbischer Abstammung gewesen ist,
während die von kroatischer Seite vertretene Ansicht, daß Bosnien
stets ein Land mit vorwiegend kroatischer Bevölkerung gewesen sei,
nur die Ansicht vereinzelter Historiker und Staatsrechtslehrer war5).
Dieser Zwiespalt in der Auffassung der ethnographischen Zugehörig¬
keit dieser Gebiete mit Rücksicht auf die angrenzenden stamm¬
verwandten rein kroatischen und serbischen Länder entsprang vor¬
wiegend Gründen der kroatischen und serbischen Expansionspolitik
und wurde in der Folgezeit nach den jeweiligen politischen Be¬
ziehungen der Kroaten und Serben zueinander mehr oder weniger
betont. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, insbesondere aber infolge
der sogenannten Fiumaner Resolution vom Jahre 1905 wurde auf
einmal auch auf ethnographischem Gebiet eine Lösung des natio¬
nalen Problems versucht, eine Lösung, die sich auch auf Bosnien er¬
streckte, und zwar in dem Sinne, daß ein neuer Kollektivbegriff des
„Serbo-Kroatentums“ die bisherigen nationalen Gegensätze über¬
*) Leopold von Ranke, Serbien und die Türkei im XIX. Jahrhundert, Leipzig
1879.
2) Geschichte der Serben, 2 Bde., Gotha 1911 und 1918. Das Werk ist unvoll¬
endet und reicht nur bis zum Jahre 1537.
3) Slawische Altertümer, Leipzig 1843. ,
4) Geschichte der Serben, Leipzig 1878.
5) L. v. Südland: Die südslawische Frage und der Weltkrieg, Wien 1918, S. 148 ff.
(Südland ist ein Pseudonym des Verfassers, dessen Name Ivo Pilar ist und der
von Beruf Advokat in Tuzla war.)
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