Kabinett es wirklich zum Konflikt treiben wolle, so würde die öster¬
reichisch-ungarische Armee mit einem ernsten Widerstande überhaupt
nicht zu rechnen haben: „Ce ne serait pas une guerre, ce serait un simple
mouvement militaire.“ Ich hatte dabei von neuem den Eindruck, daß,
so unangenehm man hier ein militärisches Vorgehen Österreich-Ungarns
gegen seinen serbischen Nachbarn auch empfinden würde, ein Ein¬
greifen Rußlands zugunsten Serbiens außerhalb jedejr
Wahrscheinlichkeit liegt. Wenn auch die Wogen des Pansla¬
wismus gegenwärtig wieder höher gehen, so glaube ich doch, daß die
Gründe, welche Rußland in diesem Augenblick nötigen, auf jede krie¬
gerische Politik zu verzichten, zu gewichtige sind, als daß die Regie¬
rung sich in eine Richtung drängen lassen dürfte, deren Gefahren sie
deutlich erkennt, und die sie daher bis jetzt offenbar nicht einschla-
gen will. Man ist sich hier ganz klar darüber, daß ein Krieg den
finanziellen Ruin Rußlands und ein Wiederauflodem der Revolution
mit unabsehbaren Folgen bedeuten könnte1).
F. Pourtales.
Nr. 444.
Der Botschafter in Petersburg Graf von Pourtales
an den Reichskanzler Fürsten von Bülow.9)
Ausfertigung.
Nr. 5o5. St. Petersburg, den i4- November 1908.
Auftragsgemäß habe ich Herrn Iswolski ein Exemplar des seine
Vorschläge für ein Konferenzprogramm enthaltenden Memorandums3)
mit den Abänderungen und Zusätzen der kaiserlichen Regierung über¬
geben. Bei Entgegennahme dieses Schriftstückes betonte der Minister,
er nehme an, sich im Einverständnis mit Euerer Durchlaucht zu befin¬
den, wenn er diesen Gedankenaustausch als einen ganz vertraulich zwi¬
schen beiden Regierungen gepflogenen ansehe*). Herr Iswolski be¬
merkte dann, daß er vom Wiener Kabinett noch kein Wort über dessen
Stellungnahme zu dem auch dorthin mitgeteilten, in London vereinbar¬
ten Entwurf zu dem Konferenzprogramm vernommen habe. Wenn er
auch keinen Zweifel darüber habe, daß in den beiden Hauptpunkten:
bezüglich der Annexion und der Kompensationsfrage, auf einen ab-
x) Vgl. jedoch Iswolskis eigene Äußerung zu dem -russischen Botschafter in Paris,
Nelidow, vom 5. November: ,,Es bleibt die Gjefahr eines austro-serbischen Konfliktes,
des gefährlichsten von allen. Wir tun und wir werden alles in unserer Macht Stehende
tun, um einem solchen Konflikte vorzubeugen; aber wenn er ausbrechen sollte, so
würde in demselben Augenblicke die Möglichkeit eines allgemeinen Krieges in nächste
Nähe gerückt.“ B. v. Siebert, Diplomatische Aktenstücke zur Geschichte der Entente¬
politik der Vorkriegsjahre S. 73.
2) Die Große Politik Bd. 26 (I. Hälfte), Nr. gi3i, S.291.
3) Siehe Nr. 9129. In unserer Aktensammlung nicht enthalten.
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