Volltext: Diplomatische Geheimakten aus russischen, montenegrinischen und sonstigen Archiven (Band II 1929)

liehe Meinung in Serbien erregen und den Anlaß zu österreichfeindlichen 
Kundgebungen bieten würden, die nicht verfehlen können, eine Spannung 
in den gegenseitigen Beziehungen der beiden Länder sowie ernstliche 
Verwicklungen hervorzurufen. 
Der vergangene Sonntag — der Tag, an dem der Mord stattfand — 
war der 025. Jahrestag der Schlacht von Kossowo, als die Niederlage der 
Serben durch die Türken den Untergang des serbischen Reiches Du- 
schans herbeiführte. Diesen Jahrestag hat man in Serbien bislang als 
Nationaltrauertag begangen; aber in diesem Jahre wurde er zum ersten¬ 
mal zum Anlaß eines Nationalfestes gemacht, und zwar infolge der den 
Türken im Jahre 1912 durch die serbische Armee beigebrachten Nieder¬ 
lagen und zum Dank für die Wiedereroberung von Altserbien und Kos¬ 
sowo durch die Serben. Der Tag wurde daher in ganz Serbien gefeiert, 
und viele Serben und Kroaten kamen von jenseits der Grenze nach Bel¬ 
grad, um an den Freudenkundgebungen teilzunehmen, die sich in Form 
von patriotischen Umzügen durch die Straßen der Stadt abspielten. Als 
sich in Belgrad die Nachricht von der Ermordung verbreitete (ungefähr 
um 8 Uhr abends), erließ die serbische Regierung in der Befürchtung, 
die chauvinistischen Elemente könnten in der durch die patriotischen 
Festlichkeiten erzeugten Wallung den Demonstrationen eine österreich¬ 
feindliche Färbung verleihen, eine Verfügung, daß sämtliche Vergnü¬ 
gungsstätten einschließlich der Cafés zum Zeichen der Trauer um 
10 Uhr die Lichter zu löschen und ihre Lokale zu schließen hätten. 
In seiner Ausgabe vom 29. Juni veröffentlichte das Regierungsorgan 
„Samouprava“ einen Leitartikel, der das traurige Geschehnis tief be¬ 
klagte, den Mord am Erzherzog verurteilte und erklärte, daß es sich nur 
um die Tat eines unverantwortlichen Wahnsinnigen handeln könne. Das 
Organ der Hauptoppositionspartei1) (Unabhängige Radikale) äußerte je¬ 
doch in seiner Nummer vom selben Tage — wenn es darin auch Aus¬ 
drücke des Bedauerns fand — die Meinung, daß der Erzherzog einen; 
Mißgriff beging, als er den Manövern in Bosnien beiwohnte, deren offen¬ 
sichtlicher Zweck es gewesen sei, die Verteidigung der Provinz gegen 
einen serbisch-montenegrinischen Angriff zu erproben, und als er in 
einem Mittelpunkt des Serbentums wie Sarajewo just in dem Augenblick 
Paraden abhielt, da in der serbischen Hauptstadt patriotische Festlich¬ 
keiten stattfanden. 
Der Generalsekretär des serbischen Auswärtigen Amtes, den ich heute 
morgen sah, drückte sich, indem er jede Verantwortung der serbischen 
Regierung für das Verbrechen ablehnte, ganz ähnlich darüber aus. Ich 
wurde von meinem italienischen Kollegen vertraulich davon in Kenntnis 
gesetzt, daß zwischen Herrn Gruitsch und dem österreichischen Ge¬ 
schäftsträger eine ziemlich heftige Unterredung stattgefunden hat, als 
*) „Odjek“. 
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