Volltext: Diplomatische Geheimakten aus russischen, montenegrinischen und sonstigen Archiven (Band II 1929)

Nr. 437. 
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen 
Amtes von Schoen.1) 
Reinschrift. 
Berlin, den 2 3. Oktober 1908. 
Der österreichisch-ungarische Botschafter teilt mir mit, er sei beauf¬ 
tragt, Herrn Iswolski hier zu sagen und dann uns mitzuteilen, Österreich- 
Ungarn könne sich auf den von Rußland befürworteten Wunsch Ser¬ 
biens nach1 Überlassung eines Streifen Landes am Südrande von Bosnien 
und der Herzegowina angesichts der großserbischen Bewe¬ 
gung und der frechen Provokationen von serbischer Seite 
unter keinen Umständen einlassen* 2). Baron Aehrenthal sei 
indessen bereit, Serbien vertragsmäßig einen Verkehrsweg durch Bos¬ 
nien und die Herzegowina nach der Küste sowie nach sonstigen ökono¬ 
mische Vorteile zuzusichern. Ebenso sei er bereit, wie seinerzeit schon 
in Buchlau angedeutet, die nach § 29 des Berliner Vertrags auf Monte¬ 
negro ruhende Belastung aufzugeben f). v. Schoen. 
*■) Die Große Politik Bd. 26 (I. Hälfte), Nr. 9101, S. 25g. 
2) Tatsächlich hat Iswolski, der vom 24.—26. Oktober in Berlin weilte, in seinen 
Unterredungen mit Fürst Bülow und Staatssekretär von Schoen (vgl. Kap. CXCVI, 
Nr. 9064 und 9065) sich für eine territoriale Kompensation Serbiens — „ein kleiner 
Streifen Landes am Südrande Bosniens“ — eingesetzt. In seinen gleichzeitigen Ge¬ 
sprächen mit dem gerade in Berlin weilenden serbischen Außenminister Milowane- 
witsch ging Iswolski wesentlich weiter. In dem Berichte Milowanowitschs vom 25. Okto¬ 
ber heißt es darüber: „Wir verabredeten, die Forderung der Territorialkompensation 
für Serbien und Montenegro bis zu den äußersten Grenzen der Möglichkeit aufrecht¬ 
zuerhalten. in zweiter Linie zu versuchen, daß das in Frage stehende Territorium an 
die Türkei abgetreten werde, welche es an Serbien übertragen solle; äußerstenfalls, 
wenn man davon absehen müsse, um so mehr darauf zu dringen, daß Bosniern und die 
Herzegowina ein autonomes Ganzes werden, daß für Serbien, die Verbindung mit dem 
Adriatischen Meer und ein offenes Gebiet bezüglich des Sandschak Novibasar ge¬ 
sichert werden.“ Boghitschewitsch, Kriegsursachen S. 162. Interessant sind auch die 
weiteren Ausführungen Iswolskis zu Milowanowitsch, die deutlich erkennen lassen, 
welche Rolle Serbien schon damals in seinen politischen Zukunftsplänen spielte: 
„Iswolski verurteilt unablässig auf das schärfste Österreich-Ungarn, das bei Rußland und 
den Westmächten alles Vertrauen verloren habe; er äußerte seine Überzeugung und 
Hoffnung, daß dieses Vorgehen bald sich an Österreich-Ungarn blutig rächen werde: 
die österreichische Frage werde infolgedessen bald akuter werden als die türkische; 
seine Politik sei darauf gerichtet, unter Liquidierung aller russischen Fragen außer¬ 
halb Europas Rußland wieder seinen europäischen Zielen zuzuführen; Serbien sei in 
dieser Politik ein wichtiger Faktor als Zentrum der Südslawen. Bosnien sei jetzt nach 
den Stimmungen Rußlands und Westeuropas weniger verloren für Serbien, selbst wenn 
die Annexion anerkannt werden sollte; die ersten Schritte zur Verwirklichung seiner 
nationalen Aufgaben werde Serbien dennoch nach dem Sandschak' Novibasar und Bos¬ 
nien hin unternehmen. Jetzt müsse ein Zusammenstoß vermieden werden, da weder 
militärisch noch diplomatisch das Terrain vorbereitet sei. Rußland müßte Serbien, 
wenn es einen Krieg hervorriefe, preisgeben, so daß es unterliegen würde, obwohl dies 
der schwerste Schlag wäre nicht blos für die russischen nationalen Gefühle, sondern 
auch für die russischen Interessen und Zukunftspläne f)“. 
f) Schlußbemerkung Kaiser Wilhelms II.: 
Das wird wohl für Iswolski ein schlechter Trost sein. 
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