Volltext: Diplomatische Geheimakten aus russischen, montenegrinischen und sonstigen Archiven (Band II 1929)

Nr. 678. 
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Ki- 
derlen an den Botschafter in Wien vonTschirschky.1) 
Eigenhändiges Konzept. 
Telegramm. Berlin, den 7. November 1912. 
Nr. 137. 
Der serbische Geschäftsträger hat mir heute im Aufträge seiner Re¬ 
gierung mitgeteilt, daß diese trotz der österreichischen Warnung sich 
nicht abhalten lassen werde, bis an die Adria durchzustoßen. Sie brauche 
den Zugang zum Meere. 
Auf meine Bemerkung, daß Serbien ja einen Zugang zum Meere 
auf der ägäischen Seite erhalten könne, während es auf der adriatischen 
Seite sowohl mit Österreich-Ungarn wie mit Italien in Konflikt kommen 
würde* 2), erwiderte mir der Geschäftsträger, daß nach dem unter den 
x) Die Große Politik Bd.33. Nr. 12 338, S. 292. Dasselbe Telegramm ging an die 
Botschaften in Rom (Nr. i84), Paris (Nr. 208), London (Nr. 192), Petersburg (Nr. 188); 
nur war in den Erlassen nach Paris und London statt des letzten Absatzes eingeschaltet: 
„Euer pp wollen ganz vertraulich die Aufmerksamkeit der dortigen Regierung auf die 
in den serbischen Plänen liegende Gefahr, insbesondere, wenn sie durch einzelne rus¬ 
sische Vertreter darin unterstützt werden, lenken“, ebenso in dem Erlaß nach Peters¬ 
burg der Schlußpassus: „Vorstehendes ist zunächst zu Ihrer Information bestimmt. 
Sollten Sie von Herrn Sasonow auf die Frage angeredet werden, bitte ich, sich im 
Rahmen der oben entwickelten Gesichtspunkte zu äußern.“ 
2) Eine genauere Wiedergabe finden die Äußerungen Kiderlens zu Boghits che witsch 
in dessen Erinnerungsbuch „Kriegsursachen“, S.55ff. Danach hätte Kiderlen auf die 
Frage des serbischen Geschäftsträgers, wie sich Deutschland bei einem russisch- 
österreichischen Konflikte, und falls Frankreich sich mit Rußland solidarisch erkläre, 
verhalten werde, geantwortet: „Wie wünschenswert es auch vom Standpunkte des 
europäischen Friedens wäre, an einer Lokalisierung des Balkankonfliktes festzuhalten, 
selbst wenn Rußland und Österreich in den Konflikt eingreifen sollten, so ist meiner 
Ansicht nach eine solche Lokalisierung unter den heutigen Umständen leider unmöglich, 
weil ich an die Aufrichtigkeit der französischen Politiker nicht glaube. Es würde daher 
auch in diesem Falle für Deutschland der Casus foederis Österreich gegenüber gegeben 
sein. Ich hoffe aber, daß gerade deswegen jeder leitende Staatsmann der Entente sich 
der ungeheueren Verantwortlichkeit bewußt sein wird, einen so großen und in seinen 
Folgen unübersehbaren Konflikt heraufzubeschwören. Die Dreibundmächte sind sich 
darüber klar, daß es mit der Türkei zu Ende gehe, und sie beabsichtigen, den Erfolg 
der aufstrebenden Balkanstaaten in keiner Weise zu beeinträchtigen. Aber sowohl 
Österreich als auch Italien und auch Deutschland würden eine Bedrohung ihrer Inter¬ 
essen durch Rußland sehen, wenn Serbien an das Adriatische Meer gelange. Abgesehen 
von der Adria setzen sie der Ausbreitung Serbiens nach keiner Richtung hin ein 
Hindernis in den Weg. Die Dreibundmächte wollen sogar Serbien unterstützen in dem 
vom serbischen Standpunkte ganz gerechtfertigten Bestreben, einen Zugang zum 
Ägäischen Meer zu erhalten, und werden Serbien selbst bei einer etwaigen Erwer¬ 
bungsabsicht Salonikis behilflich sein, wie sie es auch nicht hindern werden, wenn die 
Bulgaren in Konstantinopel einziehen sollten. Das Wardartal, mit dem Ausgange nach dem 
Ägäischen Meere, das ist das für Serbien geographisch gegebene, mit den politischen 
realen Tatsachen im Einklang stehende, natürliche Ausbreitungsgebiet.“ Vgl. dazu auch 
das Telegramm Graf Benckendorffs an Sasonow vom 12. November, in dem zwei durch 
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