Volltext: Diplomatische Geheimakten aus russischen, montenegrinischen und sonstigen Archiven (Band II 1929)

sie schon ganz bereit seien, jeden Augenblick die Föderation zu bil¬ 
den und ...nach Abwendung der Gefahr sich offen zu den Feinden 
Rußlands und des Slawentums stellen. So verfuhren die Jungtürken 
während der Annexionskrisis, zur Zeit der Zuspitzung der albanischen 
Bewegung; so verfahren sie augenscheinlich auch jetzt nach Beendigung 
der Tripolisschwierigkeiten. Aus diesen Gründen gestatte ich mir, die 
Balkanföderation mit der Türkei an der Spitze als eine überaus 
problematische Kombination zu bezeichnen, mit der man 
bis zu einem gewissen Grade natürlich sympathisieren kann, an deren 
Verwirklichung man aber nicht glauben kann, solange im türkischen 
Reich die jungtürkischen Komitees herrschen. 
Mit diesem Gesichtspunkt wird unser Botschafter in Konstantinopel 
wohl kaum einverstanden sein, schreibt ihm doch fast die ganze euro¬ 
päische Presse — mit wie viel Recht, weiß ich nicht — eine sehr aktive 
Rolle zu, um die Türken einem Bündnis mit den Balkanstaaten geneigt 
zu machen. Es fragt sich nur, wie Hofmeister Tscharykow seine Sym¬ 
pathie gegenüber der Konföderation mit den Ansichten in Einklang 
bringt, die er in den durch den letzten Kurier in meine Hände gelangten 
Depeschen ausspricht? So vergleicht unser Botschafter im Telegramm 
vom 17. Oktober Nr. 95 das türkische Reich mit einem „verfaulten 
Hause“, das auch die nach den Kriegsberichten keineswegs sehr starken 
italienischen Schläge umwerfen können. Weiter sagt Hofmeister Tscha¬ 
rykow in Nr. 94 vom selben Datum, daß die Schwächung der Türkei 
durch fremde Hände für die russischen Interessen „gar nicht unschäd¬ 
lich“ ist. 
Sowohl die eine wie die andere Behauptung erschüttert doch von 
Grund aus die Bedeutung und den Nutzen des so hartnäckig propagierten 
Systems einer Annäherung zwischen der Türkei und den slawischen 
Staaten. Und tatsächlich, welches Ziel, welchen Nutzen kann die Bil¬ 
dung dieser Föderation haben, wenn sie auf einem solchen, schon bei 
der kleinsten Berührung zusammenbrechenden Fundament auf gebaut 
wird? Und welchen Vorteil haben wir ferner davon, die Türkei durch 
slawische Bündnisse zu stärken, wo doch im Gegenteil ihre Schwächung 
für uns nicht schädlich ist? Es lohnt sich, über diese Fragen ernstlich! 
nachzudenken; besonders, wenn man berücksichtigt, daß nach den Wor¬ 
ten des Hofmeisters Tscharykow die türkische Presse (und wohl nicht 
nur diese allein) bestrebt ist, die Schuld an dem gegenwärtigen Elend 
auf Rußland abzuwälzen, und daß bei der augenblicklichen Stimmung 
der türkischen Muselmänner irgendein nichtiger Anlaß genügen würde, 
um der angesammelten und ohnmächtigen Erbitterung gegen Italien 
und Deutschland die Richtung gegen Rußland, den einzigen Nachbar 
der Türkei aus der Zahl der Großmächte zu geben. 
Ja, das ist so die jungtürkische Logik! Eine der Dreibundmächte hat 
rieh vor gar nicht so langer Zeit selbstherrlich zwei türkische Provinzen 
1S2
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.