Volltext: Diplomatische Geheimakten aus russischen, montenegrinischen und sonstigen Archiven (Band II 1929)

in den auf dem Balkan chronisch entstehenden Unruhen erreichen, Zeit 
gewinnen, um dann nach Sammlung ihrer Kräfte von innen heraus zu 
gegebener Zeit die endgültige Abrechnung mit ihrem Erb¬ 
feind zu halten. Einen anderen Standpunkt zu der Konföderation 
können die Slawen nicht einnehmen. Nicht an uns ist es, ihnen das zum 
Vorwurf zu machen; denn meines Erachtens nach kann auch Rußland 
die erwähnte politische Kombination nicht anders beurteilen. 
In der Tat, worin besteht denn der geheime Sinn und die Bedeutung 
der Politik Rußlands im Nahen Orient? Meiner Ansicht nach verfolgt 
sie zwei klare, vollkommen bestimmte Endziele: 
1. Erreichung der überkommenen Ideale für die von 
ihr zum selbständigen Leben erweckten slawischen Völ¬ 
kerschaften, was die entsprechende Aufteilung des gesamten türki¬ 
schen Besitzes auf der Balkanhalbinsel unter diese Völkerschaften zur 
Voraussetzung hat, und 
2. Verwirklichung auch der eigenen Jahrhunderte alten historischen 
Aufgabe: Festen Fuß zu fassen an den Ufern des Bosporus, 
dem Eingangstor des „Russischen Sees“. 
Es fragt sich nun, ob man in Anbetracht der genannten Aufgaben 
Rußlands und der slawischen Staaten im Nahen Orient die Balkanföde¬ 
ration unter Führung der Türkei als ein stabiles lebendiges politisches 
System, das die Interessen ihrer Glieder vollständig sicherstellt, ansehen 
kann — augenscheinlich nicht. Man kann in ihr nur eine temporäre, 
abwartenden Charakter tragende Kombination sehen, deren Zulässig¬ 
keit nur aus der Unmöglichkeit für Rußland und die Slawen resultiert, 
gegenwärtig das zu erreichen, was sie später oder früher 
unbedingt doch erreichen müssen. In einer völlig anderen Lage 
befindet sich die Türkei. Für sie und nur für sie bedeutet die Föderation 
einzig und allein Vorteile, so sonderbar das auch nach dem Obengesagten 
auf den ersten Blick erscheint. Ja, die Balkanföderation ist für die Tür¬ 
kei vorteilhaft, erstens, weil sie dadurch die Liquidation ihrer europäi¬ 
schen Besitzungen in weite Feme rückt, und zweitens, und das ist die 
Hauptsache, weil sie, indem durch das Bündnis mit den Slawen von dem 
der Status quo auf dem Balkan sichergestellt und auf diese Weise die 
wohlwollende Neutralität Rußlands gewonnen wird, imstande ist, frei über 
ihre Streitkräfte zu verfügen, um andere Teile ihres Reiches gegen räu¬ 
berische Zugriffe angeblicher Freunde und Beschützer der Jungen Tür¬ 
kei zu verteidigen. Unglücklicherweise oder vielmehr zum 
Glück hat man das in Konstantinopel niemals verstehen 
wollen. Alle Anregungen und Zureden, mit den Balkanstaaten ein 
Bündnis abzuschließen, haben die Jungtürken mit einem zweideutigen 
Spiel beantwortet. Die Konföderation in ihrer Hand würde zu einer 
Art „Diversion“, zu einer Kriegslist im Augenblick der Gefahr dienen. 
Sie würden sich, um Europa zu schrecken, den Anschein geben, als ob
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.