Volltext: Diplomatische Geheimakten aus russischen, montenegrinischen und sonstigen Archiven (Band II 1929)

genau kennt und einen unbestreitbaren Einfluß auf Viktor Emanuel aus¬ 
übt. Er sagte mir, daß er persönlich die Entwicklung dieser Angelegen¬ 
heit nicht für zweckmäßig halte, daß er aber glaube, die Regierung sei 
unter dem Druck der öffentlichen Meinung gezwungen gewesen, zu 
aktiven Maßnahmen zu greifen. Auf meine Frage, welches die Haltung 
der Verbündeten Italiens sein werde, gab Tittoni mir zur Antwort, daß, 
wie er mir vor drei Jahren in Racconigi schon sehr vertraulich mitgeteilt 
habe, die Abmachungen des Dreibundes eine besondere Bestimmung ent¬ 
hielten, nach der Deutschland und Österreich verpflichtet sind, Italien in 
Tripolis Handlungsfreiheit zu lassen. Die Einfügung dieser Bestimmung 
sei von Italien bei der letzten Erneuerung des Bundes gefordert worden. 
Italien werde deshalb auf keinen Widerstand von dieser Seite stoßen. 
Was nun Österreich im besonderen anbetrifft, so glaubt Tittoni nicht, 
daß es irgendeine Kompensation, zum Beispiel in der albanischen Frage, 
fordern könne, da zwischen Italien und Österreich ein Spezialvertrag über 
Albanien bestehe, der die Tripolisfrage nicht berühre. 
Ich habe meinerseits Tittoni nicht meine Befürchtungen verhehlt, daß 
militärische Maßnahmen Italiens in Tripolis auf die allgemeine Lage im 
nahen Orient zurückwirken könnten. Im besonderen sei zu befürchten, 
daß das gegenwärtige Regime in Konstantinopel sich nicht halten könne 
und irgendein Balkanstaat interveniere, was wieder zu einem neuen 
Schritt vorwärts von seiten Österreich-Ungarns führen könne. 
Tittoni antwortete, daß das jungtürkische Regime sich als unzuläng¬ 
lich erwiesen habe, und daß man sein Verschwinden, das voraussichtlich 
auch ohne Tripolis eintreten würde, kaum zu bedauern brauche. Was 
die Balkanstaaten anbetreffe, so sei Serbien an der Aufrechterhaltung 
der Türkei interessiert; Montenegro könne man stets zurückhalten, und 
es bliebe nur Bulgarien. Er wisse aber, daß Rumänien sich verpflichtet 
habe, keinen bulgarischen Angriff auf die Türkei zu gestatten. Schlie߬ 
lich, fügte er hinzu, sei die italienische Flotte stark genug, um die Ent¬ 
sendung türkischer Truppen nach Tripolis zu verhindern. Die Türkei 
wird also ihre militärische Stellung auf dem Balkan nicht schwächen, und 
in dieser Beziehung wird keine Änderung der allgemeinen Lage statt¬ 
finden. Was nun endlich Österreich betreffe, so werde es kaum selb¬ 
ständig vorgehen, und eine Intervention von seiner Seite könne nur in 
Verbindung mit den allgemeinen Ereignissen auf dem Balkan stattfinden. 
Deshalb hält es Tittoni für wünschenswert, daß unter den jetzigen Um¬ 
standen ein beständiger Meinungsaustausch zwischen Rom, St. Peters¬ 
burg und Wien gepflogen wird, da man nur hierdurch ein unvorher¬ 
gesehenes Vorgehen Österreichs verhindern könne. 
Iswolski. 
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