Volltext: Diplomatische Geheimakten aus russischen, montenegrinischen und sonstigen Archiven (Band II 1929)

Nr. 5i6. 
Vertraulicher Bericht des russischen Botschafters in 
Wien an den russischen Außenminister1) 
vom 2./15. Februar 1911. 
Nachdem ich mit größter Aufmerksamkeit und Objektivität die Be¬ 
richte unserer Vertreter in Sofia und Belgrad sowie unseres Geschäfts¬ 
trägers in Konstantinopel gelesen habe, komme ich zu dem Schluß, daß 
alle von der serbischen Regierung aus geheimen Quellen geschöpften 
Nachrichten nur unter Vorbehalt auf genommen werden können. Die 
schwache Seite der Serben ist ihr ständiges Bedürfnis nach politischen 
Intrigen, sie sammeln eine Unmenge allerunwahrscheinlichster Nach¬ 
richten, die ausschließlich den Zweck verfolgen, keine guten Beziehungen 
Rußlands zu den Mächten zuzulassen, zu denen Serbien selbst in schlech¬ 
ten Beziehungen steht. Die ganze Atmosphäre Belgrads ist mit unge¬ 
rechtfertigter Empfindlichkeit derartig gesättigt, daß man mit diesem 
Umstand .rechnen muß. Die serbische Regierung will nicht zulassen, daß 
Rußland auf irgendeiner Grundlage ein Übereinkommen mit Österreich 
abschließt; wenn nicht die serbische Regierung, so lenkt der serbische 
Generalstab unsere Aufmerksamkeit auf die perfidesten Absichten Öster¬ 
reichs. In diesem Augenblicke, da die Beziehungen Serbiens zur Türkei 
lange nicht befriedigend sind, besteht in den Augen der Serben kein 
Zweifel, daß die Türkei ein Abkommen mit Österreich geschlossen hat. 
Ich teile vollkommen die Ansicht unseres Geschäftsträgers in Konstan¬ 
tinopel, daß Österreich-Ungarn zur Zeit keine Absichten auf den Sand- 
schak hat. Zu diesem Schluß komme ich sowohl infolge der wieder¬ 
holten bestimmten Erklärungen des österreichischen Außenministers in 
den Delegationen, daß Österreich nicht die Absicht hat, die Politik terri¬ 
torialer Erwerbungen auf dem Balkan fortzusetzen, als auch auf Grund 
der Erwägung, daß nur auf diese Weise eine Übereinstimmung mit Ru߬ 
land erzielt werden kann, welche für Österreich ein direktes politisches 
Bedürfnis ist. 
Die für Österreich wünschenswerte Annäherung an Frankreich ist auch 
nur unter diesen Bedingungen möglich. 
Die Vereinigung aller slawischen Nationalitäten muß natürlich das 
Endziel der russischen Politik sein, aber man fragt sich, wie soll man es 
erreichen, jetzt, da König und Regierung in Bulgarien ein solches Mi߬ 
trauen Serbien und seinem Regenten gegenüber an den Tag legen. 
Ich hahte es für meine Pflicht zu erklären, daß ich ganz wie unser 
Geschäftsträger in Konstantinopel der Ansicht bin, wir müssen die Not¬ 
wendigkeit, ein neues Abkommen mit Wien zu treffen, ernstlich ins 
!) Benckendorff. Bd. II. Nr. 358, S. 44. 
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