Nr. 4i8.
Der Botschafter in Wien Fürst zu Eulenburg
an den Reichskanzler Grafen von Bülow.1)
Ausfertigung.
Nr. 6. Wien, den 6. Januar 1901.
Ganz vertraulich.
Ich hatte gestern Gelegenheit, dem Grafen Goluchowski über die
Unterredung Euerer Exzellenz mit dem Botschafter Baron Aehrenthal
vertraulich Kenntnis zu geben und die Absicht einer Besprechung der
Vertreter Österreichs und Rußlands in Konstantinopel mit der dortigen
Regierung zu erwähnen.
Graf Goluchowski sagte mir, daß die Anregung von dem russischen
Botschafter bei der Pforte ausgegangen sei, anscheinend ohne besonde¬
ren Auftrag von St. Petersburg. Baron Galice habe auf den eifrigen
Vorschlag des Botschafters zustimmend geantwortet; nachher sei aber
nichts weiter erfolgt, und anscheinend schlafe der Gedanke wieder ein.
Für das Interesse, das Euere Exellenz der Anregung entgegenbringen,
war Graf Goluchowski sehr dankbar.
Im ganzen fand der Minister die Aehrenthalsche Anschauung über
die Lage auf dem Balkan zu optimistisch. Graf Goluchowski zeigt
sich durch die Haltung der mazedonischen Komitees ernst beunruhigt
und hat mir zum erstenmal seit meiner Amtstätigkeit in Wien die
Lage auf dem Balkan in düsteren Farben geschildert.
Ich konnte zufällig durch eine Unterhaltung mit dem auf Urlaub hier
befindlichen österreichischen Vertreter in Bukarest Markgrafen Palla-
vicini konstatieren, daß der Graf dem Gesandten gegenüber in längerer
Besprechung den gleichen Ton angeschlagen hat.
Auch die Bestrebungen des Königs Alexander bezüglich eines Bünd¬
nisses mit Rumänien erwähnte Graf Goluchowski, und zwar in einem
ziemlich wegwerfenden Ton, soweit er Serbien betraf. Ich konnte fest¬
stellen, daß er die in dieser Frage von Anfang an eingenommene ab¬
ratende Haltung des Gesandten Markgrafen Pallavicini durchaus ge¬
billigt und diesen mit entsprechendem Auftrag versehen hat. Aus dem
verächtlichen Ton, den Graf Goluchowski gegenüber
!) Die große Politik Bd. 18 (I. Hälfte) Nr. 5443 S. n5ff.
1 Boghitschewitsch, Serbien n.
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