Volltext: Geheimakten aus serbischen Archiven (Band I ; 1928)

Nr. 2 1. 
Spezial-Delegierter, Minister des Äußern 
Milowanowitsch, London, an das Ministerium des 
Äußern in Belgrad. 
Telegramm: London, den 16./29. Oktober 1908. 
Gestern nachmittag empfing mich zuerst Hardinge, bei dem ich 
eine halbe Stunde blieb. Sodann begab ich mich mit ihm zu Grey und 
wir konferierten über eine Stunde. Beide hörten mich auf das auf¬ 
merksamste an und bekundeten das lebhafteste und sympathischste 
Interesse für unsere Sache. Sie könnten rückhaltslos versichern, daß 
die serbisch-nationale Frage, auf die Tagesordnung gestellt, nicht bloß 
in der englischen Presse, sondern auch in der positiven Haltung der 
englischen Politik für die serbische Regierung und für mich persön¬ 
lich die allerbeste Meinung und die lebhaftesten Sympathien erwecke. In 
der Frage der Territorialkompensationen bezweifeln sie aber, daß man Er¬ 
folg haben werde, da Österreich-Ungarn durchaus nicht darauf eingehen 
wolle. Ich legte dar, daß dies die Hauptfrage für Serbien, Montenegro 
und für die Zukunft der ganzen Balkanhalbinsel sei; daß darin die einzig 
mögliche Bürgschaft gegen ein weiteres Vordringen Österreich-Ungarns 
liege und daß diese Frage demgemäß den Barometer für die künftigen 
Absichten Österreich-Ungarns abgebe, das weder Ursache noch Interesse 
habe, nicht einzuwilligen, wenn es aufrichtig an keine weiteren Erobe¬ 
rungen am Balkan denke. Grey erkannte dies als richtig an, kam aber 
auf die Bemerkung zurück: Da Österreich-Ungarn nicht will, soll man 
deswegen die Konferenz vereiteln mit der Perspektive, daß Österreich- 
Ungarn bei der Annexion verbleibt und gleichzeitig den Sandschak- 
Novibazar behält? Ich antwortete, daß man sich nicht fürchten solle, 
diese Frage offen zu lassen, denn Österreich-Ungarn dürfe die heu¬ 
tige gespannte Lage nicht lange bestehen lassen, und es könnte sich 
ereignen, daß es, wenn diese Lage so andauere, selbst von Deutschland 
im Stich gelassen würde. Wir müßten an dieser Forderung bis zum Ende 
festhalten, und solange England diese unsere Forderung nicht preisgebe, 
seien die Aussichten auf Erfolg nicht geschwunden. Englands Haltung 
werde auch die Türkei ermutigen, die ebenfalls nicht geneigt sei, nachzu¬ 
geben, und mit der es uns leicht und rasch gelinge könnte, eine positive 
Verständigung diesbezüglich zu erreichen. Ich setzte auseinander, wie 
Österreich-Ungarns Widerstand gebrochen, und wenn dies glücke, die 
bulgarische Frage getrennt und besonders ihrer Lösung zugeführt werden 
könnte, so daß Österreich-Ungarn isoliert bliebe, was Grey durch Kopf¬ 
nicken bestätigte. Wir müssen, erläuterte ich, den Krieg vor¬ 
bereiten, der in naher Zukunft unvermeidlich ist, wenn 
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