Volltext: Geheimakten aus serbischen Archiven (Band I ; 1928)

Am nächsten Tage war ich bei Herrn Sasonow. Einen kurzen Bericht 
über meine Konversation mit ihm hat Ihnen schon Herr Popowitsch, 
der diesmal von seinem bürokratischen Standpunkte abzugehen für 
nötig fand, bereits in einem Chiffretelegramm mitgeteilt. Ich bin auch 
zu sehr beschäftigt, um alles hier zu wiederholen, nur das eine möchte 
ich bemerken, daß ich jede seiner Ansichten mit Argumenten be¬ 
kämpft habe. Als er auf die glänzenden Perspektiven für 
Serbien zu sprechen kam, entgegnete ich ihm, daß die Gro߬ 
mächte die morsche und unkultivierte Türkei volle zwei Jahrhunderte 
konserviert haben, um das Gleichgewicht der Mächte in Europa zu er¬ 
halten, obwohl die Türkei sich an der Peripherie des Kontinents be¬ 
findet. Wenn nun zur Liquidierung der türkischen Frage in Europa 
volle zwei Jahrhunderte notwendig waren, wieviel Zeit wird es zur 
Liquidierung des österreichischen Problems brauchen? Als zentral¬ 
europäische Macht ist die Existenz Österreichs ganz anders notwendig 
für die Erhaltung des europäischen Gleichgewichts als diejenige der 
Türkei. „Erlauben Sie, Exzellenz,“ sagte ich, „daß ich Ihnen bemerke, 
wie tief ich davon überzeugt bin, daß selbst ihr gegenwärtig aufrichtiger 
Bundesgenosse*) es sich wohl überlegen wird, ob er sich auf die 
Seite Rußlands stellen soll, wenn und sobald Rußland die österreichische 
Frage auf rollen sollte. Österreich ist nicht die Türkei, und nach der 
Erklärung Bethmann-Hollwegs über die Solidarität Deutschlands mit 
Österreich-Ungarn und im Falle eines eventuellen Konfliktes des Ger¬ 
manentums mit dem Slawentum, würden wir Serben, glauben Sie es 
mir, Exzellenz, gar zu naiv sein, wollten wir auch nur einen Augen¬ 
blick an eine befriedigende Verwirklichung jener glänzenden Per¬ 
spektiven glauben, von denen Sie soeben sprachen.'4 Auf diese meine 
Bemerkung entgegnete Sasonow: „Jawohl ich glaube, euch Serben 
fällt es schwer, den Spatzen, den ihr fest in Händen haltet, loszu¬ 
lassen, der Taube zuliebe, die auf dem Dache sitzt. Allein ich 
glaube nichtsdestoweniger an eure glänzende Zukunft.“ 
Ich dankte ihm für seine freundliche Gesinnung Serbien gegenüber. 
Um vielleicht seine kategorische Behauptung, daß die Bulgaren 
viel größere Opfer als wir gebracht haben, daß sie die 
Hauptmacht der Türkei vor sich gehabt, und daß sich die 
Türken schlecht geschlagen haben, ein wenig zu mildern, sagte 
er beim Abschiede: „Mir liegt so sehr an der Erhaltung 
der Einigkeit zwischen euch und den Bulgaren, daß ich 
beiden große Opfer bringen will; den Bulgaren gegenüber 
bin ich Serbe und den Serben gegenüber bin ich Bul¬ 
gare* 2).4< 
*) Gemeint ist Frankreich. 
2) Wieder ein Beweis, wie sehr es den Russen an der Erhaltung des Balkanbundes 
zur späteren Bekämpfung Österreichs gelegen war. 
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