Volltext: Geheimakten aus serbischen Archiven (Band I ; 1928)

fühlen Rechnung tragen werden, die das Verfahren Österreichs im gan¬ 
zen Serbentum hervorrufen mußte. 
Sir Edward Grey hörte mich sehr aufmerksam an, und nachdem ich 
meine Darlegungen beendigt hatte, erklärte er: er begreife zwar unseren 
Standpunkt; er sei der Ansicht, daß das Vorgehen Bulgariens und eben¬ 
so und ganz besonders dasjenige Österreichs sich durch nichts rechtfer¬ 
tigen lasse; die Ereignisse seien jedoch noch zu frisch, als daß sich die 
von der englischen Regierung zu unternehmende Aktion endgültig präzi¬ 
sieren lasse. Aber schon jetzt könne er sagen, daß die englische Regie¬ 
rung die Auffassung vertrete, daß der durch den Berliner Vertrag ge¬ 
schaffene Status quo ohne Zustimmung und Verständigung aller Signa¬ 
tarmächte nicht geändert werden könne. Deswegen müsse England zu¬ 
nächst erfahren, was und wie die übrigen interessierten Mächte darüber 
denken und vor allem, welches die Absichten der Türkei seien. — So¬ 
dann fragte mich Sir Edward, was die serbische Regierung nach der er¬ 
folgten Annexion zu tun gedenke. Ich antwortete, daß ich hierüber 
keine Informationen habe, daß man im übrigen in Belgrad noch nicht 
im reinen darüber sei, was man tun werde. Aber, fügte ich hinzu, un¬ 
zweifelhaft werde seitens der Presse, wie seitens des ganzen Volkes ge¬ 
fordert werden, daß die Regierung ihrer Aktion ein möglichst energi¬ 
sches und entschiedenes Gepräge gebe. 
In den in den heutigen Tagesblättern veröffentlichten Notizen — die 
augenscheinlich vom Foreign Office inspiriert sind —- wird der Gesichts¬ 
punkt der englischen Regierung noch kategorischer hervorgehoben, inso- 
ferne nämlich, als angeführt wird, daß England keinem Staate das 
Recht einräumen könne, den status quo am Balkan ohne seine Einwil¬ 
ligung zu ändern. Bezüglich des Modus jedoch, den England behufs 
praktischer Erledigung der Angelegenheit einzuschlagen gedenkt und 
in Berücksichtigung, daß man vor einem fait accompli stehe, habe 
ich folgendes in Erfahrung gebracht: England wünscht, daß der Frie¬ 
den unter allen Umständen erhalten bleibe und wird daher bei der 
Pforte auf Vermeidung jeder militärischen Aktion hinwirken. Die Ver¬ 
ständigung unter den Mächten könnte durch diplomatische Verhand¬ 
lungen erzielt werden, aber nicht im Wege einer europäischen Konferenz, 
obwohl Frankreich — wie es scheint — eine solche vorschlage. Des¬ 
halb sei es notwendig, daß die Türkei eine mögliche Verhandlungsbasis 
aufstelle, und eine solche Basis könnte und müßte sein: eine Geldent¬ 
schädigung. In diesem Sinne wird man übrigens auf die Pforte ein¬ 
wirken. In der türkischen Botschaft weiß man hiervon noch nichts, 
aber der Botschaftsrat sagte mir, es sei unmöglich, daß man zu einer sol¬ 
chen Entscheidung gelangen werde. 
Die ganze hiesige Presse hat das Bestreben der Regierung — nämlich 
den Wunsch nach friedlicher Lösung der Frage — vollkommen gebilligt. 
In allen Blättern wird der Türkei Geduld und Kaltblütigkeit anempfohlen. 
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