Volltext: Geheimakten aus serbischen Archiven (Band I ; 1928)

Der jetzige Zar, der den Ruf eines schwachen Menschen ohne jede 
Energie und ohne jeden Willen besitzt und der dem Spiritismus und 
Leuten, die sich mit diesen Sachen befassen, ergeben ist, lebt nun unter 
dem Einfluß jener Leute, die Alexander III. vom Hofe entfernt hatte, 
bloß mit dem Unterschiede zu früher, daß diese Leute heute die extrem¬ 
sten Reaktionäre sind, nur egoistischen Interessen nachgehen und die 
Macht des zwar uneingeschränkten, aber schwachen Monarchen zum 
Nachteile der Zukunft Rußlands und seines Fortschrittes mißbrauchen. 
Der Einfluß dieser Leute äußerte sich zuerst in der Entfernung des 
Ministers des Äußern, Iswolski. Obzwar dieser in der äußeren Politik 
Mißgriffe begangen hat, so war er doch einer der stärksten Verfechter 
des russisch-französischen Bündnisses und der russisch-englischen Ver¬ 
ständigung und daher selbstverständlich ein Gegner der jetzigen deut¬ 
schen Strömung, die von der nächsten Umgebung des Zaren protegiert 
wird. Diese Umgebung hat Sasonow zum Minister des Äußern gemacht. 
Allgemein wird Sasonow für ein Werkzeug der Hofkamarilla gehalten, 
der den Übergang Rußlands zum Dreibund vorbereiten soll (?). Seine 
Ernennung verdankt er an erster Stelle seinem Schwager, dem Minister¬ 
präsidenten Stolypin, der ihn auch an seine bisherige angesehene Stellung 
eines Gehilfen des Ministers des Äußern gebracht hat. Von Sasonow 
kann man im besten Falle nur so viel sagen, daß er ein guter Beamter 
war. Er war kein Politiker mid seine Haupttätigkeit entfaltete er in Rom 
als Gesandter beim Vatikan, wo er fast 11 Jahre Gesandter war. 
Die Befürchtung, daß Sasonow der Vollstrecker der deutschen Politik 
sein wird, hat sich bereits bei den letzten Vorgängen erfüllt: Die an der 
russisch-deutschen und der russisch-österreichischen Grenze dislozierten 
Truppen wurden zurückgezogen und gleichzeitig wurden die Besatzungen 
im fernen Osten verstärkt. Diese Maßregel beweist auffallend, wie sich 
das Verhältnis Rußlands zu den beiden Mitgliedern des Dreibundes ver¬ 
ändert hat. Zweitens können auch die bis zum bewaffneten Konflikt 
gesteigerten Feindseligkeiten gegen China zu den Folgen der Sasonovv- 
schen Politik gezählt werden, die aus Berlin die Impulse erhält; denn 
das freundschaftliche Verhältnis zu Deutschland hat sich immer in 
Rußland durch Feindschaft gegen den Osten, vornehmlich gegen China, 
geäußert, und dieses Symptom ist auch diesmal nicht ausgeblieben. Ru߬ 
land hat die Truppen des Turkestaner Militärbezirks mobilisiert, und 
während ich Ihnen diesen Brief schreibe, sind sie an der chinesischen 
Grenze konzentriert, während China seinerseits dort ^öooo Mann zu¬ 
sammengezogen hat. 
Als eine natürliche Folge der Annäherung an Deutschland erscheint 
den Russen auch die Annäherung an Österreich-Ungarn als wünschens¬ 
wert. Dadurch wird auch der Ersatz des bisherigen Botschafters Grafen 
Berchtold durch eine der neuen Richtung mehr entsprechende Persön¬ 
lichkeit, der bald erfolgen wird, wünschenswert. Bisher hat die Stelle 
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