Volltext: Geheimakten aus serbischen Archiven (Band I ; 1928)

Der unmittelbare Anlaß zu dieser Reise liegt darin, daß sowohl 
den einen wie den andern ein Wink gegeben wurde, daß die maßgeben¬ 
den Kreise mit ihnen wegen Besprechung der Autonomie und der Ver¬ 
fassung in Bosnien und der Herzegowina in Berührung kommen wollen. 
Um zu erfahren, welches die wahren Absichten dieser Kreise sind, 
haben sie beschlossen, die Aufgaben unter sich so zu verteilen, daß die 
Moslims nach Budapest gehen, um hier mit den ungarischen Politikern 
zusammenzutreffen, die Orthodoxen aber nach Wien, weil es ihnen 
wegen des Agramer Prozesses gegen die Serben nicht paßt, in nähere 
Beziehungen zur ungarischen Regierung zu treten. 
Allgemein glaubt man, daß die Serben und die Muselmanen nicht 
passiv bleiben dürfen, sondern daß sie entschieden in den Verfassungs¬ 
kampf eingreifen müssen, um sich im zukünftigen bosnischen Landtage 
die Mehrheit zu erkämpfen und auf diese Art Einfluß auf die Landes¬ 
verwaltung zu gewinnen. Gelingt ihnen dies nicht, dann könnte die öster¬ 
reichische Regierung aus ihr ergebenen Serben und Muselmanen, ihren 
Anhängern, und mit Hilfe der Katholiken, auf die sie immer rechnen 
kann, eine Majorität bilden, die es ihr ermöglichen würde, das jetzige 
Regime unter einem verfassungsmäßigen Deckmantel weiterzuführen. 
Die Serben gehen aber schweren Aufgaben entgegen, die Freundschaft 
mit den Muselmanen in dem künftigen Verfassungskampfe aufrecht¬ 
zuerhalten; denn es ist zu befürchten, daß die Muselmanen sich mit den 
Katholiken vereinigen werden, was ja auch die Regierung wünscht. 
Deswegen müssen die Orthodoxen den Muselmanen Konzessionen ma¬ 
chen und ihre eigene Taktik nach diesen einrichten. Auf diese Art nur 
kann man gewisse Erscheinungen seit der Proklamierung der Annexion 
erklären, und so waren auch die Muselmanen die hauptsächlichste Ur¬ 
sache, daß man gegen die Annexion nicht gleich protestierte, wie es zu¬ 
erst beschlossen worden war. 
Die Muselmanen lieben es nicht, sich rasch zu entscheiden, und dies 
um so mehr, als sie gewohnt waren, ihre Blicke nach Konstantinopel zu 
richten. Und der Unwille der amtlichen Kreise in Konstantinopel 
hatte sich auch gegen sie gerichtet, als die Türkei, mit Rücksicht auf 
die Geldentschädigung, der Annexion zugestimmt hatte; so haben sie 
die Kraft, sich in die neue Situation hineinzufinden, und die Fähigkeit, 
sich weiter zu orientieren, verloren. Aus diesem Grunde waren auch die 
Muselmanen wie die Serben nicht imstande, sich zu entscheiden und sich 
der neuen Situation rasch anzupassen. 
Ohne die Muselmanen wären die Serben zu keiner Aktivität auf dem 
verfassungsmäßigen Wege fähig. Denn gerade unter den Leuten der 
nationalen Organisation überwiegt die Rücksicht auf die Verfassung, 
und man kann sagen, daß die Unentschlossenheit der in den Schulen 
gebildeten Jugend schuld daran ist, daß der günstige Moment zu einem 
Proteste gegen die Annexion verpaßt wurde.
	        
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