Volltext: Alpenkrieg

hoch steigt die weiße Flut, aber noch immer treiben 
grauschwarze Wolken über den Himmel, noch immer rie¬ 
selt es nieder und begräbt Berg und Tal unter unerme߬ 
lichen Schneelasten. Die Erfahrenen wissen, was das um 
diese Zeit bedeutet: Der Boden ist noch nicht durchge¬ 
froren, kein festgewachsener Firnschnee deckt ihn; diese 
Lasten haben keinen Halt, ein Wettersturz wird sie in 
tausend Strömen zu Tal schicken . . . 
Am 12. Dezember schlägt die Temperatur jäh um. 
Hoch in den Lüften winselt der warme Wind aus dem 
Süden, der gefürchtete Föhn. Es beginnt zu regnen. Und 
die ganze Nacht geht dieses Winseln und Singen um 
die Gipfel und Grate weiter, während die Täler in un¬ 
heilverheißendes Schweigen gehüllt sind. Föhnmauern 
stehen als eine grandiose Wolkenbrandung über den 
Kämmen, und der Mensch, der winzig klein inmitten 
schauerlicher Gewalten haust, wird unruhig, reizbar oder 
niedergedrückt bis zur Verzweiflung. 
Plötzlich bricht es los. Ein Brüllen und Dröhnen 
fährt in die Kare und Täler nieder, wie der Atem der 
Technik es nicht hervorbringen kann. Es ist, als ob die 
Allmutter Natur, die „gütige", wie sie so gerne genannt 
wird, den Erdenwürmern zeigen wollte, daß alles Men¬ 
schenwerk lächerlich wird, wo sie ihre Kräfte entfesselt 
Lawinen! Ueberall Lawinen! Auf ihren alten Bahnen 
donnern sie nieder und erreichen aufstäubend das Tal; 
als Wächten brechen sie ab und nehmen Hunderttausende 
Kubikmeter Schnee von den Hängen mit; Schneebretter 
beginnen zu gleiten, schwellen zu Ungeheuern an, ge¬ 
raten in Hochwälder, die krachend und splitternd nie¬ 
dersinken wie Halmflut unter einer Sense, werfen weiße 
Wolken hoch, so hoch, daß sie halbe Stunden lang flim¬ 
mernd über dem Schauplatz der Vernichtung schweben. 
Es ist Freitag, der 13. Dezember, der „weiße" Frei¬ 
tag, an welchem Haß und Krieg entlang der ganzen 
Alpenfront schweigen, weil hüben und drüben die Men¬ 
schen gleicherweise angsterfüllt und grauengeschüttelt in 
das Rasen der Natur starren, weil das Unglück so 
allgemein ist, daß niemand an die Waffe denkt. Dieser 
Tag fordert 10.000 Opfer des weißen Todes, 10.000 der 
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