Volltext: Was wir vom Weltkrieg nicht wissen

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August Gallinger 
zu entkommen, und keiner war, wie mir die Leute sagten, darunter, der nicht einige 
hundert Rubel in den Taschen hatte. 
Selbst in Frankreich, wo ihnen die scharfe Anspannung ihrer Arbeitskraft wenig 
Zeit und Fähigkeit zu eigener Beschäftigung übrigließ, ruhten ihre Hände niemals. 
Die kleinen Gegenstände, Feuerzeuge, Messer, kleine Schmuckstücke, Leder- und 
Schmiedearbeiten, die sie aus wertlosem Abfall verfertigten, wurden ihnen von den 
Franzosen gerne um billiges Geld abgekauft, wenn im Lazarett in Golbeg, wo ich 
interniert war, die Soldaten aus den umliegenden Lagern zur Untersuchung kamen, 
wurden sie von französischen Soldaten, Krankenschwestern besuchenden Zivilpersonen 
sofort um derartige Gegenstände bestürmt. Als einen rührenden Beweis ihrer Dank¬ 
barkeit erhielt ich von den Leuten damals ein wunderschön gearbeitetes, geschmack¬ 
volles schmiedeeisernes Rauchtischchen, das ich leider bei meiner Flucht zurücklassen 
mußte. 
Auch der Trieb zur Weiterbildung bewegte sie lebhaft. Immer bereit, technisch 
von Franzosen zu lernen, vernachlässigten sie auch ihre geistige Fortbildung nicht. 
Da sie wußten, wie gerne wir antworteten, sparten sie nicht mit Fragen über Ge¬ 
biete, die ihnen noch fremd waren, erbaten sich Bücher von uns und wir konnten 
uns durch Gespräche überzeugen, daß sie sehr aufmerksam lasen. Sogar Lager¬ 
zeitungen wurden herausgegeben und mit den einfachsten Mitteln durch erstaunliche 
Geschicklichkeit Ausgezeichnetes geleistet. Für deren Bildausstattung wurden Lino¬ 
leumschnitte angefertigt, die aus Linoleumabfall hergestellt wurden. 
Zn den Gffizierslagern, deren Insassen über ihre Zeit verfügen konnten, war man 
auch nicht müßig. Überall wurde viel gelesen, hauptsächlich wissenschaftliche Werke, 
Sprachen betrieben, musiziert, gemalt, Buchhaltung usw. gelernt. Die nötigen Lehr¬ 
kräfte scheinen überall unter den Gefangenen vorhanden gewesen zu sein. Das Lager 
Ehsteauvoux besaß ein eigenes Orchester, dessen Instrumente und Roten aus frei¬ 
willigen Beiträgen bezahlt waren, und das recht anständig musizierte. Die aus Deutsch¬ 
land gestiftete Bibliothek und die privaten Bestände der einzelnen Offiziere ent¬ 
hielten gute Werke aus allen Wissensgebieten, die eifrig benutzt wurden. Ohne 
Hilfskräfte von außen wurden französische, englische, italienische, russische, spanische 
und schwedische Sprachkurse abgehalten, Unterricht in Buchhaltung und 
kaufmännischem Rechnen erteilt, Fächer, deren Besuch sich nach der Revolution 
stark steigerte, durch mehrere Wochen dauernde ganz akademische Vorlesungen 
über Philosophie, Volkswirtschaft, Geschichte, Kunstgeschichte usw. geführt und daran 
sehr lebhaft besuchte Übungen angeschlossen. Ein jeder der Lehrenden, unter denen 
ich mich auch befand, mußte sich über den Eifer und die Aufmerksamkeit der Zuhörer 
beglückt fühlen. Schließlich wurde uns von Deutschland aus auch das Recht zuerkannt, 
Reifeprüfungen abzuhalten, da wir ja über die nötigen Lehrkräfte zur Vor¬ 
bereitung verfügten. Den Abschluß dieser Prüfungen erlebte ich dort nicht mehr, da 
ich vorher vom Lager wegtransportiert wurde. 
Besonders tief haftet in mir die Erinnerung an unsere Gsterfeier 1919. wir 
wagten es, mit Darstellern aus unserem Rreise, denen jede schauspielerische Vor¬ 
bildung fehlte, eine des größten deutschen Dichters würdige Aufführung von 
Szenen aus dem „Faust" zustande zu bringen. Das Wagnis gelang so überraschend 
gut, daß der in einer Großstadt lebende, sehr theaterkundige und sehr kritische Lager¬ 
älteste lobend erklärte, kein mittleres Theater brauche sich einer solchen Aufführung
	        
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