Volltext: Was wir vom Weltkrieg nicht wissen

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August Gallinger 
stellen liegen; verschiedene waren mit Retten angeschmiedet; wir sahen ein solch furchtbare; 
Bild menschlichen Elends, daß wir Deutsche, von Grauen geschüttelt, stumm unserem weiteren 
Schicksal entgegensahen. Ich selbst hatte ja schon Ähnliches vorher durchgemacht, jene Herren, 
die in plombierten Viehwaggons tagelang die entsetzlichsten Dualen ausgestanden hatten, 
waren auch schon etwas abgestumpft. Oer Mensch kann sich an vieles gewöhnen, wenn 
er mutz. 
Um sieben Uhr abends öffnete sich die Türe unserer Zelle, herein stürzten die beiden 
Herren mit der freudigen Nachricht, wir dürfen wieder zurück in unsere alte Raserne. Da; 
hatte der russische Rubel doch fertiggebracht... hier brach nun meine Rrankheit aus, deren 
Reim ich mir in den schmutzigen Löchern walks und Stackelns geholt hatte, hohes Lieber 
schüttelte mich, rasende Schmerzen im Rnochen des Unterschenkels stellten sich ein, ich konnte 
nicht mehr gehen, hilflos war ich auf meine Rameraden angewiesen. Vieser treuen Ramerad- 
schaft, die sich in bitterer Not aufs beste bewährt hat, danke ich es in erster Linie, daß ich 
überhaupt heute noch lebe. Dreimal versuchte ich vergebens beim dortigen Hospital anzu¬ 
kommen, rundweg erklärte man mir, man nehme keinen Deutschen..." 
Kein feindlicher Kriegs- oder Zivilgefangener hat auch nur entfernt Ähnliches 
über feinen Aufenthalt in Deutschland zu melden gewußt. 
Flucht und Fluchtversuche 
jAn Flucht dachten alle. Wurde man aber auf der Flucht erwischt, so erwartete den 
wieder Eingefangenen verschärfte haft und vielfach sogar schwere Mißhandlungen. Für 
einen bemerkenswerten Unterschied französischer und deutscher Auffassung gegen¬ 
über dem festgenommenen Flüchtigen legt der Franzose Jacques Uividre Zeugnis ab. 
In seinem Buche „l?HlIemand", das auch seine eigene Gefangenschaft behandelt, 
tadelt er, daß die Deutschen einen entsprungenen Gefangenen so nett aufnehmen 
und zu ihm etwa sagen: Man verstehe ja, daß er den Wunsch habe, loszukommen, 
aber Krieg sei eben Krieg. „Wir Franzosen", ruft Riviöre aus, „würden so einen 
Kerl, der unsere Befehle mißachtet hat, ganz anders anbrüllen: vans la certitude 
de notre fait. (In dem Gefühl der Berechtigung unseres Standpunktes)... Ich habe 
einen dieser Unglücklichen gesehen, der bei seiner Aufnahme ins Lazarett von zwei 
Mann geführt werden mußte und dessen Gesicht eine einzige Geschwulst bildete, so 
daß er buchstäblich nicht aus den Augen sehen konnte... Andere mußten in einem 
selbstgegrabenen Loch im Freien ohne jeden Schutz vor der Witterung bis zu 40 Tage 
absitzen... 
Die Franzosen glaubten sich in ihrer Ehre angegriffen, wenn einem Gefangenen 
die Flucht gelang und er so den Beweis gegen ihre Wachsamkeit lieferte, aus die sie 
so stolz waren. Auch nach dem Waffenstillstand, also zu einer Zeit, da der Entsprungene 
doch als Kämpfer gegen sie nicht mehr in Frage kommen konnte, wurde daher an 
der strengen Beaufsichtigung nichts geändert. Ihre Maßnahmen verrieten die hohe 
Achtung, die sie in den Scharfsinn, die Kaltblütigkeit, Erfindungsgabe, Zähigkeit und 
den Drang zur Freiheit bei den Deutschen setzten, und steigerten sich häufig zu komisch 
wirkendem Argwohn. Da es einmal vorgekommen war, daß einer versuchte, durch 
einen in monatelanger, mühsamer Arbeit gegrabenen unterirdischen Gang zu ent¬ 
kommen (ein versuch, der nahe vor dem Gelingen durch Zufall entdeckt wurde), so 
klopften sie alle paar Tage mit Stöcken unsere Zementbußböden ab, um aus dem 
Klang etwaige neue versuche festzustellen. Ungeachtet dessen ist vielen in allen Län¬ 
dern die Flucht gelungen, durch ein bewunderungswürdiges Ausmaß von Mut, Ent¬ 
schlossenheit und auch geriebener Schlauheit, vor der Gefahr schreckte keiner zurück. 
Wochenlange nächtliche Fußmärsche mit einem durch monatelanges Fasten von der
	        
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