Volltext: Was wir vom Weltkrieg nicht wissen

416 Gertraud Gratzmann 
Dann kommt erst das andere an die Reihe, die Rügen sind doch wohl hin." Die 
Rügen, das war das Schlimmste! 
wie ich jetzt eben wieder durch den Saal ging, tastete seine fieberheiße Hand 
nach mir: „Schwester!" — „Ja, Heinrich." — „wissen Sie-, daß der Stabsarzt 
heut zu mir gesagt hat, daß mein Rugenlicht nicht mehr zu retten sei!" — Es klingt 
wie ein Rufschrei: „Schwester, können Sie sich denken, was das heißt, für mich heißt, 
ich bin Waler,- wär' ich doch nicht gefunden worden!" — Leise, leise streiche ich über 
die fieberheiße Stirn, über die armen Hände, die den Pinsel nicht mehr führen werden. 
was sollen Trostworte diesem Leid gegenüber!-wie oft noch in den kommenden 
Nächten sitzt die dunkle Derzweislung an diesem Bett und bannt den Schlaf aus ihrer 
Nähe. — Immer wieder diese tastende Hand, dieses flüsternde Rufen in dem von 
schwerem Atmen wunder, schlafender Menschen erfüllten Saal: „Schwester! Sehen 
Sie, in Thüringen — da lebt ein Mädchen — wir sind noch nicht verlobt, aber sie 
weiß, daß ich sie lieb habe, — ich hab' ihr schreiben lassen, daß sie nicht auf mich warten 
soll, weil ich-. Und heute erhielt ich ihre Antwort, da, im Brustbeutel steckt sie, 
mit dem Bild, das sie mir zum Abschied gab. Bitte, lesen Sie es mir nochmals vor, 
vielleicht kann ich dann schlafen." — Das Licht meiner Taschenlampe fällt auf die 
Photographie eines lachenden Mädchens im wandervogelkleid, einen Blumenkranz 
im haar, und dann lese ich flüsternd, damit es in den andern Betten niemand hört. 
woher hat dies achtzehnjährige, fröhliche Rind all die wunderbaren Worte der 
Trostes? Reine nutzlose Klage, nur Liebe und heißes Mitempfinden: „Ich hab' Sonne 
genug für uns beide und trau' mir Kraft genug zu, um Dir wieder Zreude am Leben 
und allem Schönen zu geben. Dankbar und froh bin ich, wenn ich nur Deine Stimme 
wieder hören darf,- so komm bald und Gott wird weiterhelfen." — 3a, ich glaubte 
es, daß der Arme glücklich über diese Zeilen war und sie gleich einem Talismann, der 
böse Gedanken verscheuchen konnte, dicht am herzen trug. „Ich muß mich schämen, 
daß ich so verzagt war", sagte der Blinde, „aber nun will ich Ihnen auch keinen 
Verdruß mehr machen und brav schlafen, damit ich bald in die Heimat kann." — 
Damit ging es nun freilich nicht so schnell,- erst war der Transport allzu gefährlich 
für die Schwerverwundeten und späterhin konnten wir „unseren Heinrich" auf der 
Station nicht mehr entbehren. Es lag da noch so mancher, den der gleiche fürchterliche 
Schlag — der vollständigen Erblindung — getroffen hatte, wenn alle Trostworte 
der Schwester an dem einen: „Ach, Sie wisse.n ja nicht wie das ist" zerschellt waren, 
dann setzte sich Heinrich neben seinen lichtlosen Kameraden und sagte behutsam: 
„Doch, ich weiß es, wie es einem zumute ist, wenn man plötzlich im Dunkel sitzt 
und unsere schöne Welt nicht mehr sehen kann,- es ist ganz elend schwer und der Tod 
scheint einem da das Beste. Aber wir sollen eben leben und müssen sehen, wie wir 
etwas Rechtes trotz aller Halbheit draus machen und dann wird schon der Segen 
nicht ausbleiben. Schüttle nur nicht den Kopf, es ist doch so und ich hab's auch er¬ 
fahren." — Nein, wir konnten ihn nicht entbehren! 
Er trieb den tollsten Unsinn, um seine bedrückten Leidensgefährten zu erheitern; 
er konnte wunderschön auf der Ziehharmonika spielen, die zerstörten Augen gegen 
den Himmel gewendet, während die Kameraden dazu sangen,- er trug jeden ge¬ 
wünschten Gegenstand herbei, wenn dieser nur auf seinem ordnungsgemäßen Platz 
war,- er war stolz, wenn er, während das ganze Lazarett wegen eines Kliegerangriffs 
im Dunkel lag, aus einem mächtigen Blindenschriftband vorlesen konnte und erboste
	        
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