Volltext: Was wir vom Weltkrieg nicht wissen

Gab es Schicksalsstunden im Weltkrieg und wann? 21 
gezählt. Über die rumänische Krise stürzt er. stm 26. August wird er auf Lethmanns 
Vorschlag durch hindenburg-Ludendorff ersetzt. Diese teilen seine Bedenken nicht in 
gleichem Maße. Sommeschlacht und rumänischer Feldzug haben die deutschen Kräfte 
zum Zerreißen gespannt. Oer Reichskanzler erklärt, ein Sonderfrieden mit Rußland 
sei keinesfalls zu erwarten. Dann muß man die von Beseler versprochene polnische 
Hilfe zu gewinnen suchen und zwar möglichst schnell. Ghne Selbständigkeitserklärung 
aber, sagt Beseler, ist diese Hilfe nicht zu haben. — Auf Bitte des Unterstaatssekretärs 
wahnschaffe wirkt Ludendorff in diesem Sinne auf widerstrebende Reichstags¬ 
abgeordnete ein. — 
Denn Widerstand war da. helfferich warnte, es warnte auf das dringlichste in 
einer von Bassermann unterschriebenen Eingabe vom 29. September die national¬ 
liberale Reichstagsfraktion. Lethmann stützte sich auf die angebliche Unmöglichkeit 
eines russischen Sonderfriedens, auf das (von ihm entfesselte) Drängen der Militärs, 
auf die Sorge, Rußland könne, dem Druck von England und Frankreich nachgebend, 
mit etwas Ähnlichem zuvorkommen. Am 18. Oktober wurde von den deutschen und 
österreichischen politischen und militärischen Spitzen in PIeß das Manifest über die 
Unabhängigkeit Polens beschlossen. „Stürmer habe keine noch so geheime Friedens¬ 
geste gezeigt", meinte der Reichskanzler. 
Die Diplomaten der Westmächte in Petersburg dachten anders über Stürmer und 
Möglichkeiten eines Ausscheidens Rußlands. Mit äußerstem Argwohn bewachten sie 
jeden seiner Schritte, bewachten sie Protopopow, Rasputin, die Zarin, „wenn der 
Zar ernsthaft diese Bestrebungen mißbillige", schreibt palöologue nach Paris, „warum 
lasse er jene Männer (Stürmer, Protopopow) in der Regierung?" Und überaus ernst 
sind die Zeichen der Zeit in Petersburg. Der Acheron beginnt sich zu bewegen. Am 
31. Oktober bricht ein großer Streik aus,' es ertönt der Ruf: „Nieder mit den Fran¬ 
zosen! Genug Rrieg!" Ingenieure und Werkmeister, die vermitteln wollen, werden 
mit Steinwürfen vertrieben, drei französische Meister schwer verletzt. Die Polizei er¬ 
weist sich als zu schwach. Zwei herbeigerufene Znfanterieregimenter schießen nicht 
auf die Arbeiter, sondern auf die Gendarmen. Zwar treiben dann vier Regimenter 
Rosaken die Infanteristen zurück, stellen die Ordnung wieder her, zwar werden 
eine Woche später 150 der Meuterer als abschreckendes Beispiel erschossen, aber kein 
Zweifel: Die Garnison von Petersburg, 170000 Mann, ist unzuverlässig geworden. 
Der nach Tokio gerufene japanische Botschafter erklärt bei seiner Abreise palöologue: 
„Die russische Armee ist nicht mehr einheitlich, das Volk augenscheinlich kriegsmüde." 
Wie lange wird der Zar fest bleiben? 
Zn diese Stimmung hinein schlägt am 6. November wie eine Bombe die Nachricht, 
daß die Zentralmächte am Tage vorher ein Manifest erlassen haben, das die Autonomie 
Polens mit konstitutioneller Regierung unter erblicher Monarchie verkündet. Die 
russischen Blätter protestieren aufs heftigste gegen diese „zgnische Verletzung des 
Völkerrechts". Ghne Friedensschluß hat der Feind über russisches Gebiet verfügt! 
„Ungeheuerlich! Welche Schande in unserer Geschichte! Welche Beleidigung für den 
Zaren! Die Rrone Polens ist ihm vom Ropfe gerissen" — so tobt es in der hohen 
russischen Gesellschaft in Petersburg. Noch größer ist die Erregung in Moskau und 
Riew. Vas immer noch sehr empfindliche russische Nationalgefühl ist aufs tiefste ge¬ 
kränkt. Stürmer sieht alle seine Hoffnungen zerschlagen, sein Sturz und der Sturz 
Protopopows ist nicht mehr aufzuhalten, „haben denn die Herren in Berlin und
	        
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