Volltext: Was wir vom Weltkrieg nicht wissen

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was wir Pont Ernährungswesen des Weltkrieges nicht wissen 
bereitungen nicht tragisch genommen. Die ursprünglich einsetzende Nervosität, die 
sich in starker Hamsterei äußerte, machte allmählich wieder deni normalen Geschäfts¬ 
verkehr Platz. Oie von den Feindbundstaaten ausgesprochene Wirtschaftsblockade 
kannte man zwar, glaubte aber, daß man sie infolge der Kürze des Krieges leicht 
überstehen könnte. Daß vor dem Kriege von amtlicher Seite keinerlei vernünftige 
Vorratsstatistik betrieben wurde, vergaß man in den ersten Kriegsmonaten voll¬ 
kommen, weil man glaubte, sie nicht zu benötigen, vüß aber gerade dieses Fehlen 
einer geordneten Statistik schon Anfang 1915 zu verhängnisvollsten Maßnahmen auf 
dem Gebiet der Ernährungswirtschaft führte, bedachte man damals überhaupt nicht. 
Line Übersicht über Erzeugung und Bedarf, über vorhandene Bestände von Getreide 
fehlte fast vollkommen. Fm Mai 1914 wurde durch ein Reichsgesetz eine Bestands¬ 
aufnahme der Getreidevorräte vorgeschrieben und — man staune — am 1. Juli 1914, 
also 4 Wochen vor Ausbruch des Krieges, wurde sie erst durchgeführt. Oie dort 
erzielten Unterlagen waren infolge erstmaliger Maßnahmen ziemlich mangelhaft 
und bildeten dann den Grund für den größten Teil der späteren Schwierigkeiten. 
AIs man endlich im Kriege dazu überging, überhaupt einmal die landwirtschaft¬ 
liche Bestellungsfläche festzustellen, wurde diese um 5—10% überschätzt. Es wurde 
also eine landwirtschaftliche Mehrerzeugung, die wir brauchten, vorgetäuscht, obwohl 
sie gar nicht vorhanden war. Aus der anderen Seite sind wiederum bei anderen 
Früchten, wie Kartoffeln, die Bestände zu niedrig eingeschätzt worden, so daß später 
der berühmte „Schweinemord", der die Fleischknappheit des ganzen Krieges ver¬ 
ursachte, durchgeführt wurde. Bei der Herausgabe von Brotkarten hat man bei¬ 
spielsweise rund 5 Millionen Menschen zu viel gezählt und deshalb so viel Brot¬ 
karten mehr ausgegeben. Oaß auf diese Art und Weise die unbedingt notwendigen 
Nahrungsmittelbestände verschleudert wurden, liegt aus der Hand, hinzu kommt noch, 
daß die einzelnen Verwaltungsbehörden in Berlin sich herumstritten, wer eigentlich 
für die ganze Ernährungswirtschaft zuständig wäre. Vas preußische Landwirtschafts¬ 
ministerium, das sich vorwiegend um die Steigerung der Erzeugung kümmerte, ver¬ 
suchte sich einzuschalten. In diesem Augenblick kam sofort das Reichsamt des Innern, 
also die Polizei-Verwaltungsbehörde, und entwickelte seinen Zuständigkeitskomplex, 
ritz alle Macht an sich, um mit Paragraphen und Pickelhaube sich um die Verteilung 
der Nahrungsmittel zu kümmern. Anstatt mit den Verbrauchern und mit der Land¬ 
wirtschaft zusammenzugehen, arbeiteten die Behörden bewußt gegen beide. Mangelnde 
Sachkenntnis der mit der Ourchführung Beauftragten ließen viele Maßnahmen, die 
vielleicht einen guten Kern hatten, zum Scheitern bringen. 
So schwelgte man in Verordnungen, wie beispielsweise während der Kartoffel¬ 
versorgung des Winters 1915/16, wo man zu einer Grundoerordnung allein 20 Ab¬ 
änderungsanordnungen herausgab. Jede dieser Abänderungsanweisungen war 
natürlich in der Praxis längst wieder überholt, bis sie zu den untersten Stellen kam. 
Dabei war der Inhalt in einem Iuristendeutsch abgefaßt, das der normale Volks¬ 
genosse natürlich nicht verstand. Es kam sogar so weit, daß die Behörden anordneten, 
wieviel Zentner Saatgut aus den Hektar Fläche Verwendung finden dürfte. Etwas 
derartig Irrsinniges mußte natürlich zur Katastrophe führen, denn man kann von 
heute auf morgen dem deutschen Boden nicht dMeren, daß er mit weniger Saatgut 
dieselbe Menge, wenn nicht sogar mehr an Erträgen herauszubringen habe. Oer 
deutsche Acker hat dann darauf auch entsprechend reagiert.
	        
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