Volltext: Was wir vom Weltkrieg nicht wissen

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Toni Kellen 
Schon bald nach Beginn des Krieges entwickelte sich eine besondere Liebesgaben- 
Industrie. Waren der verschiedensten Art wurden in vorschriftsmäßiger Verpackung 
dem Publikum angeboten. Leider benutzten auch gewissenlose Geschäftsleute die 
Gelegenheit, um minderwertige waren zu hohen preisen zu verkaufen. Solche 
Nahrungs- und Genußmittel hat der Minister des Innern den Regierungspräsidenten 
und den Polizeiverwaltungen zur besonderen Aufmerksamkeit empfohlen, und durch 
die behördlichen Warnungen ist es gelungen, dem Treiben jener Industrieritter zum 
großen Teil Einhalt zu gebieten. 
Als die dringendsten leiblichen Bedürfnisse befriedigt waren, wurde auch der 
geistigen Bedürfnisse gedacht. Oie Soldaten im Felde wie die verwundeten in den 
Lazaretten wurden mit Lesestoff, Zeitungen, Broschüren und Büchern versehen. 
Gleich bei Kriegsbeginn haben sich die Kreise, die in Friedenszeiten die Ver¬ 
sorgung des Volkes oder bestimmter Kreise mit Lesestoff sich zur Aufgabe gestellt 
haben, zu einem „Gesamtausschuß zur Verteilung von Lesestoff im Felde und in 
den Lazaretten" zusammengetan, der dem Roten Kreuz angeschlossen wurde. Zuerst 
wurden die Lazarette mit Büchereien versehen, vie Versorgung der Truppen im 
Seide mußte zunächst aus militärischen Gründen zurückstehen. Bald hat der Gesamt¬ 
ausschuß aber auch diese Aufgabe tatkräftig in die Hand genommen. 
Durch die vom Lörsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig und vom 
Deutschen Verlegerverein zu Leipzig veranstalteten Sammlungen von Lesestoff für 
die Lazarette und die Truppen waren 400000Libliotheksbände und 600000 kleinere 
Schriften und Zeitschriften bei der in den Räumen der Königlichen Bibliothek in 
Berlin befindlichen Sammelstelle eingegangen. 
Bis Ende Oktober 1914 mußte man die Liebesgaben in Automobilen zur Front 
schaffen, weil die Eisenbahnen mit Truppen- und verwundetentransporten und 
durch die Zufuhr von Rlunition und Rlaterialien ganz in Anspruch genommen waren. 
Seit jener Zeit erfolgte die Zufuhr aber durch die Eisenbahnen. 
Es war unausbleiblich, daß namentlich im e sten Kriegsjahr in der Sammlung 
und der Verteilung von Liebesgaben eine gewisse Ungleichheit herrschte und daß man 
von einer Anarchie in der Bedarfsanpassung sprechen konnte, von einzelnen Sachen 
wurde zu viel, von andern zu wenig gesammelt, und so erhielten auch einzelne 
Truppenteile und Mannschaften zu viel, andere zu wenig. Erst allmählich kam Ord¬ 
nung und Disziplin in diese Tätigkeit. Bei der Dauer des Krieges war eben eine 
gleichmäßige Verteilung der Liebesgaben dringend nötig, um nicht Gefahr zu laufen, 
daß Gaben verschwendet wurden. An alle opferwilligen Spender erging daher die 
Bitte, keine leicht verderblichen Gegenstände zu spenden. Ferner wurde immer wieder 
darauf hingewiesen, daß durch die für bestimmte Truppenteile gespendeten Liebes¬ 
gaben bei diesen ein Überfluß hervorgerufen wurde, der bei sachgemäßer Verteilung 
leicht vermieden werden konnte. 
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Und nun wird vielleicht mancher Leser sagen: „was nützten all diese Samm¬ 
lungen, da wir den Krieg doch verloren haben?" Gewiß konnten sie das Endergebnis 
nicht beeinflussen, da dieses von anderen Ursachen abhing, aber die Sammlungen 
haben Deutschland doch erlaubt, länger durchzuhalten, als man erwartet hatte. Sie
	        
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