Volltext: Was wir vom Weltkrieg nicht wissen

Gab es Schicksalsstunden im Weltkrieg und wann? 
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würde bei solcher Überlegenheit einen Sieg erfochten haben, der mit einem Schlage 
den „Kräfteausgleich" herbeigeführt hätte und zugleich einen moralischen Erfolg, 
der die Furcht der Neutralen und deutscher Politiker vor Englands Seegewalt mit 
einem Schlage beseitigt hätte. An diesem Morgen hatte der Kriegsgott weit die Hand 
der deutschen Marine entgegengestreckt: gelähmt durch einen übervorsichtigen Lhef 
des Admiralstabes, einen kriegsunkundigen Staatsmann, einen Führer ohne den 
Ehrgeiz des Sieges hat sie den einzigen Augenblick des Glücks unerkannt vorüber¬ 
gehen lassen. Nur das vertrauen in den Erfolg ruft den Erfolg herbei! 
Die proklamkerung der Unabhängigkeit Polen- am 5. November 1916 
Anfang November 1916 schwirren in den deutschfreundlichen Kreisen in Peters¬ 
burg überraschende Gerüchte. Man führt sie auf den vor nicht langer Zeit ernannten 
Innenminister Protopopow zurück. Sie lauten: „Rußland wird — soviel ist klar — 
mit Waffengewalt Konstantinopel nicht erobern können. Weder England noch Frank¬ 
reich würden das Zarenreich trotz aller Versicherungen die Meerengen annektieren 
lassen. Konstantinopel kann nur Deutschland den Russen verschaffen — es braucht 
nur die Türken ihrem Schicksal zu überlassen. Es ist dazu bereit, wenn der Zar seine 
wahren Interessen erkennt und sofort den Frieden unterzeichnet. Welch schöner Tag, 
wenn Slawen und Germanen sich unter der Kuppel der Hagia Sophia vereinen 
werden." 
Eine Vision von welthistorischer Bedeutung. Begründet? Schon am 19. April 1915 
hatte die hohe Pforte dem deutschen Botschafter „zum eventuellen Gebrauch" er¬ 
hebliche Zugeständnisse mitgeteilt, die sie in der Meerengenfrage den russischen wirt¬ 
schaftlichen und militärischen Ansprüchen zu machen bereit sei, die freilich nicht bis 
zur Abtretung Konstantinopels gingen, aber doch schon von vornherein sehr viel 
brachten. Bethmann hat sie 1916 anscheinend ausgenutzt. Freilich ohne besondere 
Hoffnung, ver Sonderfriede mit Rußland lag ihm, der unter dem Einfluß russen¬ 
feindlicher, englandfreundlicher Kreise stand, nicht, vie Überzeugung von der Not¬ 
wendigkeit eines polnischen Pufferstaates zwischen Deutschland und Rußland hatte 
er wohl schon von seinem Gheim August Moritz v. Bethmann geerbt, einem leiden¬ 
schaftlichen Verfechter dieser Idee in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. 
Vatz nach einem Kriege dieser Ausmaße im Osten der alte Zustand wiederkommen 
könnte, war ihm undenkbar, die Wiederherstellung eines selbständigen Polenreiches 
erschien ihm, sobald erst einmal Kongreßpolen von den Zentralmächten besetzt war, 
unvermeidlich. Auch daß eine solche Entscheidung früh fallen mutzte, „vie Polen 
mußten wissen, ob wir sie dauernd als Feinde betrachten wollten... Allen öster¬ 
reichischen Plänen lag die Befreiung Kongretzpolens von russischer Herrschaft zu¬ 
grunde." Freilich, das „Wie" machte Schwierigkeiten, ver österreichisch-ungarische 
Außenminister Graf Burian möchte das bisherige russische Polen ganz an Österreich 
angliedern; umgekehrt dankte Bethmann für einen Zuwachs von 12 Millionen 
Polen zum Deutschen Reich. Soweit also kein Gegensatz. Aber Bethmann wollte bei 
einem Anfall Kongreßpolens an Österreich Sicherungen für die Deutschen Österreichs, 
deren parlamentarischer Einfluß völlig erdrückt werden mußte, wenn die Österreicher 
ohne Änderung ihrer staatlichen Grundformen nur ein erweitertes Galizien schufen. 
Er wollte auch Sicherungen gegen eine militärische und wirtschaftliche Umklamme¬ 
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