Volltext: Was wir vom Weltkrieg nicht wissen

vom unbekannten deutschen Soldaten 
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Es sind viele Bücher angefüllt worden mit der Schilderung einzelner Taten, die 
sich aus der Gleichförmigkeit des Geschehens herausheben, und es ist notwendig, 
das Beispiel des einzelnen immer wieder der Gesamtheit vorzuhalten, damit sie ihm 
nachstrebe. Oie Heeresberichte priesen das Sturmbataillon, das früh beim Morgen- 
dämmern in die feindlichen Gräben einbrach und sie besetzte. Sie verschwiegen die 
Gpfer, die von der Stellungsinfanterie gebracht werden mutzten, wenn das Sturm- 
bataillon längst abgerückt war und wenn der Gegner sich tagelang mit wüstem 
Trommelfeuer und immer neuen Angriffswellen bemühte, das verlorene wieder¬ 
zugewinnen. Oer Flieger, der seinen dreitzigsten Gegner abgeschossen, lebte im 
Herzen des ganzen Volkes als ein gefeierter Held, ven Meldegänger, der zum drei¬ 
hundertsten Male im Vorfeld des vouaumont oder bei pöronne den nächtlichen 
Weg vom Regimentsgefechtsstand zur Kompanie zurücklegte, kannte niemand, vie 
Vivision, der es als erster gelang, bei der Märzoffensive 1918 die Somme zu über¬ 
schreiten, trug ihren Namen in das Buch der Kriegsgeschichte auf der ersten Seite 
ein. Vie Nachbardivision, die bei dem versuch verblutete, weil sie auf einen zehnfach 
stärkeren Gegner traf, wurde vom Armeeoberkommando nicht gerade sehr freundlich 
nach den Gründen ihres Versagens gefragt. 
hat es nun jemand erlebt, datz der ehrenvoll Ausgezeichnete sich dem schweigend 
Übergangenen überlegen gefühlt oder datz der ungenannte Meldegänger etwa auf 
den gefeierten Flieger eifersüchtig gewesen sei? War es nicht so, datz die Division, 
die nutzlos verblutete, ihrer Nachbarin dankbar war, datz ihr deren Erfolg den Über¬ 
gang am nächsten Tage ermöglichte, und datz der Infanterist im Trichter sich ge¬ 
borgen und erleichtert fühlte, wenn er die Jagdstaffel des berühmten Kampffliegers 
über sich an der Arbeit sah? Venn auch dies ist eine Tugend, die auf den Schlacht¬ 
feldern entstand und die eine Voraussetzung ist jener Nameradschaft und jener Ge¬ 
meinschaft: neidlos sein und seine Pflicht erfüllen an dem Drt, an den man gestellt 
ist. Sie ist schwerer zu erwerben, als man denkt, diese Tugend. Aber wer sie einmal 
besitzt, wird sie niemals wieder verlieren. 
Bescheiden sein, neidlos sein, Pflicht erfüllen aus Selbstverständlichkeit und un¬ 
verbrüchliche Bindung an die Gemeinschaft als Voraussetzung allen Handelns — 
was ist es anders als das fortwährende Beugen unter ein Schicksal, das dem einzelnen 
auferlegt ist um des Ganzen willen? Jeder nächtliche Gang in die Stellung, jeder 
neue Einsatz an einem andern Frontabschnitt, jeder Wechsel von der ruhigen Front 
zur bewegten, von Lothringen nach Verdun oder vom Gsten nach dem westen, jede 
Rückkehr vom Heimaturlaub, jede Ablösung im Trichterfeld und jeder Angriff im 
Morgengrauen, die Uhr in der Hand, jeder Tag und jede Nacht, ja, jegliche Stunde 
fast waren ein Beugen unter dieses Schicksal, hin und wieder aber, in den Augen¬ 
blicken der stärksten Anspannung, in den Tagen des Grotzkampfes und den Stunden 
der letzten Verstrickung im Schlachtfeld, forderte dies Schicksal den Soldaten zur 
äußersten Erprobung heraus, unbarmherzig, grausam, wahllos in seinen Dpfern, 
sinnlos und willkürlich scheinbar. In diesen Stunden des brennenden Schmelztiegels 
wurde jäh der ganze Inhalt des Lebens in Frage gestellt. Es war, als erforsche der 
Rrieg den Menschen, um festzustellen, ob er noch Spannkraft und Mut zur Über¬ 
windung des Schicksals besitze. Je öfter aber diese Erprobungen sich wiederholten, 
um so mehr entstand nun ein Neues, das dem unbekannten Soldaten bestimmt war 
und das, von ihm ausgehend, zum Matzstab soldatischen Wesens überhaupt wurde:
	        
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