Volltext: Was wir vom Weltkrieg nicht wissen

126Llsbeth Schragmüller 
dem still vornehmen Hause meiner ehrwürdigen Großmutter ein überaus sorgsame 
und gründliche Erziehung erhielt. Entsprechend der überlieferten Sitte ihrer eigenen 
Jugendzeit um die Witte des vorigen Jahrhunderts hielt sie an der französischen 
Umgangssprache fest. Überhaupt legte sie großen Wert auf meine Schulung in 
fremden Sprachen und wählte daher meist ausländische Lehrkräfte zu meinen 
Erzieherinnen. Ulles, was ineine Bildung zu fördern geeignet schien, wurde von ihr 
gepflegt und daher wurde ich häufig zu ihrer Begleitung in südliche Bäder bestimmt, 
in denen sie Heilung suchte. So kam ich schon in früher Jugend mit fremdlän¬ 
dischem Wesen und fremden Kulturen in Berührung. 
Nach Beendigung der Schulzeit wurde ich der üblichen Laufbahn der „höheren 
Tochter" entsprechend für zwei Jahre in ein exklusives Pensionat Thüringens geschickt, 
um mich im „schöngeistigen Wissen" zu vervollkommnen. Ich hatte leichte Auffassungs¬ 
gabe, war wißbegierig und lernte ohne Schwierigkeiten. Doch das, was der weiblichen 
Jugend damals an Wissenswertem geboten wurde, erschien mir oberflächlich und so 
ertrotzte ich mir, sehr gegen den Willen der Weinen, die Erlaubnis zur Vorbereitung 
auf das humanistische Abitur. Leicht wurde mir die Ausführung dieses Vorsatzes nicht 
immer. Wollte ich in drei Jahren das selbst gesteckte Ziel erreichen, so hieß es, die 
Zähne aufeinanderbeißen und den Kopf in die griechische und lateinische Grammatik 
stecken, statt wie meine Altersgenossinnen Bälle und gesellschaftliche Veranstaltungen 
zu besuchen, voch ich hielt mit zäher Energie durch und legte nach Besuch der beiden 
Primen an einem Karlsruher Ggmnasium dort die Reifeprüfung ab. 
ven großen w-eltgeschichtlichen Zusammenhängen und den Kragen modernstaat¬ 
licher Organisation hatte mein besonderes Interesse gehört und so wählte ich die 
Staatswissenschaften zum Spezialfach des Hochschulstudiums, das mich an die ver¬ 
schiedensten Universitäten, darunter Kreiburg i. B., Lausanne und Berlin führte. Ich 
hatte das Glück, Gelehrte ersten Ranges nicht nur zu meinen Lehrern zu zählen, 
sondern auch zu persönlichen Kreunden und Beratern zu gewinnen. In ihrem §a- 
milienkreis ging mir, weit über den Hörsaal hinaus, die bisher noch unbekannte Welt 
der deutschen wissenschaftlichen Forscher auf. Durch Teilnahme an ihren Diskussionen 
und Witarbeit an ihren speziellen Arbeiten begriff ich, welche Bedeutung und Ver¬ 
antwortung an der Gestaltung der Völkerschicksale geistiger Pionierarbeit zukommt. 
Nachdem ich 1913 in Kreiburg i. L. das Doktorexamen mit Auszeichnung bestanden 
hatte, führte mich praktische Arbeit nach Berlin. Lehrtätigkeit in meinem Kach am 
„Lette-Verein" und soziale Arbeit im Aufträge der „Zentralstelle für Volkswohlfahrt" 
brachten mich mit den breiten Schichten des Volkes und mit der Arbeiterklasse zusam¬ 
men. Die Psyche der Wassen, die ich bisher nur aus Büchern kannte, erlebte ich nun 
persönlich, und wieder eröffnete sich mir ein neues Blickfeld: Oie Riesenaufgabe der 
inneren Politik, der die volkspsgche als eines der heiligsten Güter der Nation zu treuen 
Händen in Obhut gegeben ist. In jener einjährigen, praktischen Arbeit vor Ausbruch 
des Weltkrieges erhielt ich den Anschauungsunterricht dafür, daß mit der Lösung der 
Aufgaben der inneren Politik oder mit ihrem versagen das moderne Staatswesen 
steht und fällt. Jenes Jahr ließ mich auch die Gefahr ahnen, die der „innere Keind" 
für das deutsche Volk durch stete Schürung der Unzufriedenheit einmal bilden könnte. 
Als aber in den letzten Julitagen 1914 das deutsche Kaiserwort „Ich kenne keine Par¬ 
teien mehr ..." zur Wirklichkeit geworden war, als das Vaterland eine Verbrüderung 
von arm und reich, hoch und nieder, gebildet und ungebildet erlebte, als die Sozial¬
	        
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