Volltext: Unteilbar und untrennbar (1,1919)

Vor dem Sturm. 
zählen und um der Türkei das Nachgeben zu erleichtern, 
schloß sich GrafÄhrenthal, ihr mit einer freiwilligen, allerdings 
nicht unbedenklichen Konzession entgegenzukommen: der Auft 
gäbe des Sandschaks Novibazar, über den Osterreich-Ungarn 
Hoheitsrechte hatte und durch den die nun für weiteres auft 
gegebene Bahn eben hätte traciert werden sollen. Dieser Maß- 
nähme war militärischerseits im Herbst 1908 nur unter der 
Voraussetzung beigestimmt worden, daß der Krieg mit Ser- 
bien in gewisser Aussicht stand, in welchem Fall der Sand- 
schak natürlich sofort und zwar mit ausreichenden Kräften wieder 
besetzt worden wäre. 
Nach dieser diplomatischen Vorbereitung, die mit gewiß 
unverhältnismäßig großen Zugeständnissen verbunden, aber 
wenigstens, soweit Verträge sichern, eine vollkommene war, 
entschloß sich Graf Ährenthal zur Tat. Die Unabhängigkeits- 
erklärung Ferdinands von Bulgarien, des bisherigen Vasallen 
der Türkei, gab den Auftakt. Und am 6. Oktober 1908 erschien 
das folgende Handschreiben des Kaisers und Königs: 
„Durchdrungen von der unerschütterlichen Überzeugung, 
daß die hohen kulturellen und politischen Zwecke, um derent- 
willen die Österreichisch-Ungarische Monarchie die Besetzung 
und Verwaltung Bosniens und der Hercegovina übernommen 
hat und die mit schweren Opfern erzielten Erfolge der bis- 
herigen Verwaltung nur durch Gewährung von ihren Be-- 
dürfnissen entsprechenden verfassungsmäßigen Einrichtungen 
dauernd gesichert werden können, für deren Erlassung aber die 
Schaffung einer klaren und unzweideutigen Rechtsstellung der 
beiden Länder die unerläßliche Voraussetzung bildet, erstrecke 
ich die Rechte meiner Souveränität auf Bosnien und die 
Hercegovina und setze gleichzeitig die für Mein Haus geltende 
Erbfolgeordnung auch für diese Länder in Wirksamkeit. Zur 
Kundgebung der friedlichen Absichten, die Mich bei dieser un- 
abweislichen Verfügung geleitet haben, ordne ich gleichzeitig 
die Räumung des Sandschaks Novibazar von den dahin ver- 
legten Truppen meiner Armee an. Franz Joseph m. p." 
Gespannt lauschte man in Österreich-Ungarn auf das Echo. 
Man war einigermaßen aufSturm gefaßt seit jenem Zwischen- 
fall mit der Sandschakbahn, aber der Tumult, der sich erhob, über- 
traf alle Erwartungen und vor allem, er kam aus einer Wind- 
richtung, die niemand erwartet hatte, von England. Selten war 
in der Weltgeschichte das Verhältnis zweier Staaten zu einander 
ein derart harmonisches gewesen, wie dasjenige Osterreich-Un- 
garns und Englands, nie hatte ein Zwist sie in Waffen entzweit, 
niemals die geringste Mißhelligkeit zwischen ihnen geherrscht, 
England war es gewesen, das die Initiative zum Berliner 
Kongreß übernommen, England, das sich dem Grafen Andrassy 
vorher verbürgt hatte, die Annexion — und nicht nur die 
Okkupation — auf diesem Kongresse mit allem diplomatischen 
Nachdruck zu unterstützen, England war es selbst, das 
Stück um Stück große Teile des ottomanischen Reiches 
tatsächlich oder nominell dem eigenen Bestände ein- 
gefügt hatte. Aber plötzlich war England wie immer, 
es ihm paßte, „moralisch", sah in der Titel- 
änderung eines schon längst Tatsache gewordenen 
Rechtes einen Diebstahl, eine noch nie dagewesene Ver- 
des Berliner Vertrags, der, wie Erispi zu Bis- 
>r zwanzig Jahren sagte, nur mehr aus 
Ährenthal war der Machiavell Europas 
us allen Organen des großen Friedensbeschützers 
Edward Grey tönte Sturm und Drohung. 
Daß England damals die Rolle des Chorführers 
übernahm, war in jenen Tagen noch nicht recht zu 
verstehen. England war damals inmitten seiner Ein- 
kreisungspolitik gegen Deutschland und hatte im Stillen 
gehofft, Osterreich-Ungarn, den letzten und treuesten Ver- 
bündeten—denn Italien war schon gewonnen — von 
ihm abzuziehen." Ein Geheimnisvolles war da ge- 
schehen: in der Sommervilla von Ischl hatte König 
Eduard im Sommer 1908, zwei knappe Monate vor der 
Annexion, noch Vorschläge gemacht, deren Wortlaut 
man nicht kennt, wohl aber deren Sinn. Osterreich- 
Ungarn sollte von Deutschland abrücken und es ist 
kein Zweifel, daß hohe Belohnung dafür ihm ver- 
sprechen war. Die Antwort unseres Monarchen war 
einzig ehrenhafte und würdige: eine restlose Ab- 
Weisung, die König Eduard dauernd verstimmte und 
Besuch in Osterreich-Ungarn zu seinem letzten 
indes er in keinem Jahre versäumt hatte, nach 
Marienbad zu kommen. Nun war die Gelegenheit 
Osterreich-Ungarn zu zeigen, was es versäumt habe, 
indem es einen so hohen Protektor abwies: wollte es 
seine Gunst nicht, so sollte es die Schwere seines Un- 
willens fühlen. Die Presse wurde mobilisiert, ohne 
jede Umschweife mitgeteilt, daß England seine Zu- 
stimmung zur Annexion verweigere, das berüchtigte 
Balkankomitee unter NoÄ Buxton, dessen Aufgabe 
Graf Ährenthal, der österreichisch-ungarische Minister des Auswärtigen. es bisher gewesen, die Austreibung der Türkei aus
	        
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