Volltext: Die Geschichte des Weltkrieges II. Band (2,1920)

118 Feldzug gi 
gefähr 90 Kilometer unbefestigt ist, als Mangel angesehen 
werden, ebenso die Lücke in dem Räume der Weichsel bei 
Jwangorod und dem Bug bei Brest-Litowsk, eine unbefestigte 
Strecke von 135 Kilometer. Eine Ausstattung dieser beiden 
Fronten mit modernen Stützpunkten hätte die Widerstands- 
kraft der russischen Verteidigung um ein Bedeutendes erhöht. 
Aber das Festungsnetz war nicht in erster Linie als 
Abwehr eines von Deutschland und von Galizien ein- 
brechenden Feindes gedacht, es sollte vor diesem Eveutual- 
fall den Ausgangspunkt für russische Angriffe gegen die 
Grenzländer Polens bilden und zugleich als Schutz des ruft 
fischen Aufmarsches mit der Front nach Westen gelten. 
Die Brückenköpfe der vielen Flußlinien sollten das Vor-- 
brechen über die einzelnen Abschnitte decken. Was aber den 
Aufmarsch anbelangt, so muß auf die überaus großen 
Entfernungen und das recht dünne Eisenbahnnetz hinge-- 
wiesen werden. Deshalb mußte die russische Heeresleitung 
die Versammlung ihrer Massen innerhalb des Festungs-- 
uetzes verlegen. Dieser Vorteil fiel in den ersten Monaten 
nach Kriegsausbruch auch wirklich stark in die Wagschale. 
Die Russen waren in der Lage, ihre Armeen im Schutze 
des polnischen Festungsbereiches rasch zu verschieben. Der 
Zusammenbruch dieser gewaltigen Anlage mußte einem 
vorläufigen Zusammenbruch des ganzen Offensivgeistes 
gleichkommen. Es galt denn auf einer anderen Basis die 
Initiative wieder aufzunehmen, was aber nur in beschränktem 
Maße gelang. Darum sind die 6 Kriegswochen vom Juli 
bis September 1915 mehr als eine großartige Episode; 
sie bedeuten die Vernichtung der Basis, auf welcher die ganzen 
strategischen Operationen Rußlands gegen Deutschland und 
Österreich-Ungarn aufgebaut waren. 
Der glorreiche Durchbruch der verbündeten Armeen 
über den Duuajec bei Gorlice—Taruow, welcher in jenem 
unvergeßlichen Mai 1915 begann, war die Einleitung zu 
jener groß angelegten Angriffsbewegung, die den Stellungs- 
krieg im Osten ablöste. Die Wieberbesetzung Lembergs 
bedeutete die sichtbare Krönung des siegreichen Vormarsches 
in Galizien. Die Heeresgruppe des GO. v. Mackensen 
hatte durch diese Operationen das Angriffsfeld nach Süd-- 
ostpolen zwischen der Weichsel und dem Bug freigelegt. 
Mithin waren die russischen Heere, die noch in den befestig- 
ten Stellungen westlich der Weichsel standen, aber auch die 
Armeen zwischen Weichsel und Bug arg gefährdet. Ein 
Vordringen der Heeresgruppe Mackensen in der Rich-- 
tung von Süden nach Norden konnte eine U n t e r b r e - 
chung der russischen Front zwischen Warschau 
und Brest--Litowsk bedeuten. Die Folgen dieses 
Einbruches waren nicht abzusehen. Es gab daher für die 
Russen nur zwei Möglichkeiten: entweder die westrussischen 
Festungen, zunächst die Weichsel- und Narewlinie mit aller 
Anstrengung zu halten und den entscheidenden Kampf an 
und östlich dieser Linie aufzunehmen; oder die Festungen 
ihrem Schicksal überlassen und die Feldheere nach Osten 
hin aus dem strategischen Festungsnetz zurückzunehmen. 
Großfürst Nikolai N i k 0 l a j e w i t f ch, der damals 
noch den russischen Oberbefehl führte, Iah seine Armeen 
von einer riesenhaften Umklammerung bedroht, die, wenn 
die Zeichen recht zu deuten waren, darauf angelegt war, 
die russischen Heere im Festungsbereiche zwischen Warschau, 
I.vango.od, B est-Litowsk, Gro^no einzuschließen und zu 
erdrücken. Schon drängte die Heeresgruppe Mackensen 
m Rußland. 
vom Süden zwischen Weichsel und Bug vor, während Teile 
der Heeresgruppe Hindenburg sich gegen Kowno heran- 
arbeiteten und im südlichen Kurland an der Dubissa Boden 
gewannen. Daraus konnte auf die Absichten einer Offensive 
gegen die Dünalinie Dünaburg—Riga geschlossen werden, 
verbunden mit einem Vorstoß zwischen den Punkten Wilna und 
Dünaburg, und in der allgemeinen Richtung gegen Minsk. 
Anfang Juli 1915 stand der Entschluß der russischen 
Heeresleitung fest: die westrussischen Festungen sollten auf 
ihre eigenen Kräfte beschränkt bleiben, also dem Andrang 
des Gegners preisgegeben werden, vom Feldheer jedoch 
mußte so viel als möglich nach Osten gerettet werden. Bei 
diesem Rückzüge sollte eine Taktik befolgt werden, die da- 
hinaus ging, die verlassenen Gegenden nur in möglichst ge- 
räumjem Zustande den nachrückenden Verbündeten zu über-- 
lassen. Bezeichnend für dieses Vorgehen ist ein Aufruf, der 
am 2. Juli 191? in der „Nowoje Wremja" stand und an 
das russische Volk gerichtet war: 
„Der unserem Feinde in Galizien zugefallene Erfolg 
beflügelt feine Schritte und gibt ihm die Hoffnung, weiter 
in das Gebiet, das jetzt noch unsere Armee besetzt hält, ein- 
zubringen. Unsere Armee wird beim Rückzüge auf die ihr 
vorgeschriebenen Stellungen zeitweise einen Teil des vater- 
ländischen Bodens räumen müssen, dem Feinde die Er- 
zeugnisse friedlicher Arbeit und die aufgespeicherten Reich- 
tümer überlassend. Wir kennen jetzt die Deutschen: wissen 
mit welch beispiellosem Zynismus sie Ehre, Würde und 
Rechte der friedlichen Bevölkerung mit Füßen treten. Nach 
allem Erlebten auf menschliches Benehmen gegenüber den 
friedlichen Einwohnern von feiten der blind wütenden 
Teutonen zu rechnen, ist ausgeschlossen. Möge daher jeder 
russische Bürger von einem Gedanken durchdrungen sein, 
dem Bewußtsein der Pflicht gegenüber dem Vaterlande, 
und möge jeder russische Untertan seine Kräfte anspannen 
zur Vernichtung des Gegners. Die friedliche Bevölkerung 
kann die heimischen Fluren nicht mit der Waffe in der Hand 
schützen. Wir können den modernen Wandalen auch ohne 
Waffen mehr schaden. 
Die Heerführer Wilhelms, die sich zum Einbruch in die 
fruchtbaren Gouvernements Rußlands rüsten, gedenken un- 
geheure Vorräte, Nahrungsmittel, Futtermittel und Rohstoffe 
für Artilleriematerial, an denen sie schon Mangel leiden, 
einzuheimsen. Hier ist die Achillesferse unseres Feindes, 
hierhin müssen die russischen Bürger unsere Schläge richten. 
Wir haben es in der Hand, die Absichten des Gegners zu 
durchkreuzen, jeder russische Bürger, der auf den von dem 
feindlichen Einfall bedrohten Gebieten ins Innere Ruß- 
lands übersiedelt, erfüllt eine Ehrenpflicht gegen das Vater- 
land, wenn er alles das vernichtet, worauf er in der Er- 
Wartung langer Friedensjahre gearbeitet hat. Wir dürfen 
nichts für die Deutschen zurücklassen, was ihren Truppen 
nützen könnte. Unsere Nachhuten müssen, den Abzug der 
Hauptkräfte deckend, nur die nackte, des wogenden Meeres 
der grünen Fluren beraubte Erbe zurücklassen. Privat- 
interessen darf man jetzt nicht schonen. Später wird alles 
hundertfach ersetzt werden. Jetzt darf uns nur das Bewußt- 
sein von der Notwendigkeit beherrschen, den verachteten 
Feind zu zerdrücken, der jedes Recht auf Achtung und Ver- 
trauen verloren hat." 
In welcher Art diese Verfügungen verwirklicht wurden, 
zeigt eine Bekanntmachung in einem dieser Bezirke, in 
welche der Vormarsch im russischen Festungsgebiete vor- 
getragen wurde.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.